Ein Kommentar von Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene e.V.
Die Provokation war gelungen: Verdutzte Gesichter, als der hohe Ministerialbeamte aus dem Bundesverkehrsministerium den in Dresden versammelten Logistikern seinen ersten Chart präsentierte. Die Vortragsfrage, was die Schiene beim automatisierten und vernetzen Fahren von der Straße lernen könne, beantwortete der Unterabteilungsleiter aus Berlin via Beamer mit einem Wort: „Nichts“. Die Störgefühle der Logistiker schwanden erst wieder, als nach einem Mausklick aus dem „Nichts“ ein „FAST Nichts“ wurde.
Ein gutes Jahr ist seitdem vergangen, und der Mann hat nach wie vor recht: „Nichts“ lernen kann die Schiene, weil sie in Sachen automatisiertes und vernetztes Fahren einen jahrzehntelangen Praxisvorsprung hat. Dennoch kann die Schiene immens viel von der Straße lernen, was Marketing und PR anbelangt. „FAST Nichts“ ist in dem Zusammenhang allenfalls eine rhetorisch gewollte Untertreibung.
Doch zuerst zum„Nichts“. In Lille nahm 1983 die weltweit erste fahrerlose U-Bahn ihren Betrieb auf. Mittlerweile fahren in der nordfranzösischen Metropole jedes Jahr mehr als 100 Millionen Passagiere mit den vollautomatisierten Linien Ml und M2. Lille ist in Europa längst kein Einzelfall mehr. In 15 europäischen Städten, darunter in Nürnberg sind fahrerlose U-Bahnen unterwegs. Sie transportieren nach einer Erhebung der Allianz pro Schiene pro Jahr mehr als eine Milliarde Menschen.
Der automatisierte Betrieb ermöglicht eine höhere Taktung des Fahrplans. Dadurch können bis zu 20% mehr Fahrgäste auf einem Streckenabschnitt befördert werden. Zusätzlich sinkt durch das computergesteuerte Fahren der Energieverbrauch um bis zu 30%. Das sind Vorteile, die sich beim Neubau von U-Bahn-Linien betriebswirtschaftlich rechnen, weshalb die Nachfrage weltweit rapide ansteigt. In Deutschland will Hamburg als zweite deutsche Stadt zukünftig eine neue U-Bahn-Linie vollautomatisch betreiben und fahrerlose Züge einsetzen, um den Norden und Nordwesten der Elbmetropole besser ans Zentrum anzubinden. Für bundesweite Schlagzeilen sorgt das Projekt allerdings nicht. Im Gegensatz dazu vergeht seit Jahren kaum ein Tag ohne massenmediale Berichterstattung über den vermeintlich unmittelbar bevorstehen Durchbruch im Straßenverkehr. Beim autonomen Fahren herrscht eine klare Arbeitsteilung: Die Autoindustrie redet davon, die Bahnen machen es. Womit in Sachen Marketing und PR „FAST Alles“ zum „FAST Nichts“ gesagt wäre.
Der von der Autolobby geschürte Hype um autonom fahrende Straßenfahrzeuge hat eine gewollte Nebenwirkung: Mit einem Feuerwerk von Zukunftsszenarien sammelt die Autoindustrie Unmengen Geld vom Staat ein. Allein im Zeitraum von 2007 bis 2017 staubten deutsche Autobauer 969 Mio. EUR von verschiedenen Bundesministerien für Forschung und Entwicklung ab, wie aus der kürzlich veröffentlichten Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervorgeht.
Die Schienenfahrzeughersteller und ihre Zulieferbetriebe erhielten für Forschung und Entwicklung im selben Zeitraum kümmerliche 16,4 Mio. EUR. Unter anderem ein Ergebnis der in Eisenbahnkreisen weit verbreiteten Devise„Tue Gutes und schweige drüber“.
Dabei ist es mitnichten so, dass im Schienenverkehr kein Forschungs- und Entwicklungsbedarf beim automatisierten und vernetzen Fahren bestünde. U-Bahnen sind prädestiniert für automatisierte Systeme. Im Eisenbahnbetrieb, in dem sich Güterzüge das Netz mit Personenzügen teilen müssen und der Gleiskörper im Regelfall nicht durch schützende Röhren verläuft, steht die Branche aber vor ungleich größeren Herausforderungen. Im Straßenverkehr erprobte Sensoren sind z. B. im Hochgeschwindigkeitsverkehr wegen der höheren Geschwindigkeit und der längeren Bremswege der Züge nicht einsetzbar. Für den Schienenverkehr ist die Straßenverkehrstechnik zu „kurzsichtig“.
Der Bundesverkehrsminister brüstet sich öffentlich mit einem „digitalen Testfeld“ auf der Straße. Beim sogenannten Platooning, bei dem mehrere Lastwagen in minimalem Abstand hintereinanderfahren und vom ersten Fahrzeug gesteuert werden, setzt der Minister sich gar selbst werbewirksam hinters Steuer. Auch ein innovatives Lkw-Parkleitsystem wird mit Unterstützung des Bundesverkehrsministeriums auf der A9 erprobt.
Allen Sonntagsreden und Koalitionsvereinbarungen zum Trotz gibt es dagegen kein vom Bund gefördertes digitales Testfeld Schiene zum fahrerlosen Fahren. Lediglich konzeptionell widmet sich die Bundesregierung in der neuen „Hightech-Strategie“ der intelligenten Mobilität auf der Schiene. Mit der automatischen Rangierlokomotive der Deutschen Bahn AG und einer Studie des Eisenbahn-Bundesamtes zum autonomen Fahren auf der Schiene sind zwei Vorhaben mit Bezug zum Schienengüterverkehr enthalten.
Der im Koalitionsvertrag von Union und SPD verankerte Anspruch, die Schiene zu stärken und mehr Verkehr auf die Schiene zu verlagern, spiegelt sich in der Förderpolitik nicht wider. Er ist in den vergangenen Jahren vielmehr konterkariert worden.
Auch wenn etwa in Australien seit Jahren schwere Güterzüge auf einem Mischnetz ohne Lokführer fahren, in Deutschland wird es noch viele Jahre dauern, bis Güterbahnen vollautomatisch rangieren oder fahren. Ebenso wird im Hochgeschwindigkeitsverkehr auf lange Sicht ein Lokführer an Bord sein – und sei es „nur“ zur Überwachung des hochautomatisierten Zugverkehrs.
Im Wettbewerb mit der Straße helfen wird auf jeden Fall die Marktdurchdringung von Fahrerassistenzsystemen. Genau wie vollautomatisch fahrende U-Bahnen sparen Fahrerassistenzsysteme Energie und erhöhen die Streckenkapazität. Diese elektronischen Einrichtungen im Schienenfahrzeug ermitteln anhand von Streckenführung, Fahrplan und Zugzusammensetzung eine verbrauchsoptimierte Fahrweise. Das unter Energieeffizienzgesichtspunkten optimale Fahrprofil wird dem Lokführer als Empfehlung angezeigt, wodurch er bis zu 15 % Energie einsparen kann.
Die Technik ist bereits marktreif und verfügbar, hat aber noch keine zufriedenstellende Verbreitung bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen gefunden. Mit dem Ziel, Unternehmen den Weg bei der Einführung von Fahrerassistenzsystemen zu weisen, ist jüngst das Projekt „Fahr umweltbewusst“ von Allianz pro Schiene und Deutscher Bundesstiftung Umwelt (DBU) gestartet. Hier erhalten Entscheider Informationen und Kontakte, um Hemmnisse abzubauen und die Integration in die eigenen Abläufe und Fahrzeuge zu erleichtern. Wertvolle Einblicke geben Anbieter und Anwender, die bereits Erfahrungen mit den Systemen im Alltag gesammelt haben.
Was kann die Schiene also beim automatisierten und vernetzen Fahren von der Straße lernen? Die Schienenbranche muss enger zusammenrücken, Digitalisierungsstrategien entwickeln sowie einheitliche Schnittstellen und Standards für die Datenübertragung aus verschiedenen Telematik-systemen in ein Portal entwickeln. Zwingend notwendig ist ein Masterplan ETCS / digitale Leit- und Sicherungstechnik, bei dem der Bund als Infrastruktureigentümer eine tragende Rolle übernehmen muss. Auch ist der Bund gefordert, eine flächendeckende Breitbandversorgung entlang der Bundesschienenwege zu gewährleisten. Ohne diese Grundlage kann kein digitaler Datenaustausch in Echtzeit zwischen den Zügen und der Landseite hergestellt werden.
Die Technik für automatisiertes und vernetztes Fahren auf der Schiene ist vorhanden. Beim Praxiseinsatz haben die Bahnen teilweise einen jahrzehntelangen Vorsprung. Die Branche muss ihre Erfolge und Bedürfnisse allerdings deutlich besser vermarkten und ähnlich effektiv wie die Autoindustrie die Politik animieren, notwendige Weiterentwicklungen finanziell zu unterstützen. Gelingt dies, brauchen die Bahnen sich vor Roboter-Autos oder Lkw-Platooning nicht zu fürchten.
Dieser Artikel erschien zuerst in „Der Eisenbahningenieur“ 7/17. Den Artikel im PDF-Format können Sie hier ansehen.