Jeder Bahnhofsneubau ist riskant. Gefühle ranken sich ums alte Gemäuer und die altehrwürdige Tradition lässt die Moderne schnell wie ein Leichtgewicht aussehen. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass ausgerechnet das mit Reformen und Reformatoren vertraute Wittenberg das Meisterstück eines kompletten Bahnhofsneubaus souverän vollbracht hat. Stadt, Land, Bahn und Bürger zogen hier an einem Strang, und sie haben für die Reisenden ein sehr modernes, helles, einladendes Entree zu einem geschichtsträchtigen Ort geschaffen.
Luthers Prinzip der „innerweltlichen Askese“ scheint den Gestaltern dabei oberstes Prinzip gewesen zu sein: Keine Schnörkel, keine Verzierungen, keine Gigantomanie, aber überall Liebe zum Detail, gepaart mit Zweckmäßigkeit und Offenheit zum Himmel hin. Das große luftige Zeltdach, das eine zukunftsweisende Mischung aus Bahnhofshalle und Vorplatz darstellt, schirmt den Reisenden bei Regen und lässt ihm zugleich Luft zum Atmen. Der moderne Mensch mit seiner metaphysischen Unbehaustheit im Reisegepäck fühlt sich unter dieser luftigen Membran angemessen aufgehoben. Bahnhof Lutherstadt Wittenberg (Hbf) ist sachlich, ohne kalt zu sein. Auch in dem hochwertigen schwarzen Klinker, der den Flachbau des neuen Hauptgebäudes einkleidet, zeigt die Moderne ein vertrauenserweckendes Gesicht, das dem Eintretenden verspricht: „Hier gehst du nicht verloren, hier findest du dich zurecht.“
Die Beschilderung im Bahnhof Lutherstadt Wittenberg ist vorbildlich. Überall wird der Reisende diskret aber verständlich geleitet. Ein neu gepflasterter Weg führt – für Rollkoffer geeignet und mit Blindenleitstreifen versehen – ins Zentrum von Wittenberg und damit geradewegs hin zu der Schlosskirche, an deren Portal Luther vor 500 Jahren seine Thesen genagelt haben soll. Von einem stattlich großen Busbahnhof gleich unter dem Membrandach fahren die Pendler ins Umland weiter. An den Wartehäuschen gibt es auf einer Rückwand einen Stadtplan. Und die Taxen? Kommen natürlich da an, wo das Zeltdach noch hinreicht. Das Reisezentrum verkauft Tickets für den Fern- und Nahverkehr aus einer Hand und für E-Autos und E-Bikes gibt es eine Stromtankstelle.
Das Innenleben des Bahnhofs ist ebenfalls gut gerüstet für Pendler- und Pilgerströme aller Art: Ein heller Wartebereich mit Blick auf die Abfahrtszeiten öffnet sich hin zu einer Bäckerei und einem Buchladen. Im Rücken der Wartenden erinnert ein Kachelmosaik an den alten abgerissenen Vorgängerbahnhof, damit auch die Tradition einen kleinen Ehrenwinkel behält. Auf einem Monitor können Reisende außerdem einen Blick auf das energetische Innenleben des Bahnhofs werfen. Denn Wittenberg spielt auch in Sachen protestantischer Sparsamkeit in der ersten Liga: Als „grüner Bahnhof“ erzeugt der Bahnhof Lutherstadt Wittenberg CO2 neutral seinen Strom auf dem eigenen begrünten Dach und holt geothermisch seine Wärme und Kälte aus der Erde. Auch Fahrgästen, die Handy oder Laptop im Wartebereich an die Steckdose klemmen, liefert der Bahnhof den selbsterzeugten Ökostrom.
Nur einen winzigen Abzug von der Bestnote gibt es für den gekachelten Fußgängertunnel zu Gleis 5: Der Durchgang ist – bei aller Liebe zur strengen Lehre – vielleicht zu klösterlich karg geraten. Und einen durchgehenden ICE nach Rom, den müssen die Reisenden auch im Luther-Jahr verschmerzen. Aber vielleicht muss das so sein im Bahnhof des Jahres 2017.
Im Osten des Bundeslands Sachsen-Anhalt liegt direkt an der Elbe die historische Stadt Wittenberg. Der Bahnhof Lutherstadt Wittenberg ist nur zehn Minuten zu Fuß vom Stadtkern entfernt. Hier gibt es eine historische Altstadt und mehrere UNIESCO Weltkulturerbe zu besichtigen. In nur 30 Minuten sind Reisende mit dem ICE in Berlin oder in Leipzig. Der Hauptbahnhof bietet aber nicht nur schnelle Verbindungen: Er ist auch – nach dem nordrheinwestfälischen Horrem – der zweite grüne Bahnhof in Deutschland. Mit Photovoltaikanlage, Regenwasseraufbereitung oder Geothermie ist der Bahnhofsneubau Ende 2016 als CO2 neutraler Bahnhof eröffnet worden. Im Empfangsgebäude stehen den Reisenden eine Bahnhofsbuchhandlung, eine Bäckerei und ein offener Wartebereich mit bequemen Sitzmöglichkeiten zur Verfügung. Zudem können Reisende die Lademöglichkeiten für Elektrogeräte und ein WLAN-Hotspot im Gebäude nutzen.
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