Bei der Digitalisierung will die Bundesregierung das Tempo erhöhen. Alles soll digitalisiert und beschleunigt werden. 290 Mal erwähnt Koalitionsvereinbarung den Begriff „digital“. Kein anderes Thema wird in der Arbeitsgrundlage für die nächsten vier Jahre so nach vorne gestellt wie das Digitale. Die neue Staatsministerin für Digitales, Dorothe Bär (CSU), spricht vor laufender Kamera von digital gesteuerten Flugtaxis als künftiger Herausforderung in ihrem Wirkungsbereich, ihr Parteifreund Alexander Dobrindt ist zu seinen Zeiten als Bundesverkehrsminister bereits in der vergangenen Legislaturperiode in einem Konvoi ferngesteuerter Lkw in einer „Platooning“-Versuchsfahrt auf der Autobahn mitgefahren. Nun soll laut Koalitionsvereinbarung „der erfolgreiche Aufbau der ‚Digitalen Testfelder Autobahnen‘ weitergeführt“ und das automatisierte Fahren auf der Straße auch in den Städten sowie auf der Schiene unterstützt werden.
Stehen wir also kurz vor Beginn eines fahrerlosen, vollautomatischen Mobilitätszeitalters? Und wo erleben wir das zuerst – auf der Schiene oder auf der Straße? Oder in der Luft? Und wo hört die Vision auf und fängt die Realität an? All diese Fragen sind brennend aktuell. Die Antworten erstaunlich unbekannt.
Im Personenverkehr auf der Schiene ist schon vieles digitalisiert und automatisiert. Fahrerlose U-Bahnen gibt es seit 1983 in Europa, heute werden auf dem Kontinent jährlich mehr als eine Milliarde Fahrgäste in 15 Städten vollautomatisch im Untergrund befördert. In Deutschland will nach Nürnberg nun auch Hamburg fahrerlosen U-Bahn-Verkehr anbieten. Die Ausschreibung für die Beschaffung der Fahrzeuge ist Anfang des Jahres im EU-Amtsblatt veröffentlicht worden.
Der Flugverkehr ist ebenfalls weitgehend automatisiert. Zwar sind immer noch Piloten an Bord, ihre Rolle im Cockpit ist aber mehr überwachender als steuernder Natur. Am meisten geredet – und dies seit Jahren – wird über das autonom fahrende Auto. Dennoch gibt es bis heute keine reinen Autopiloten wie im Flugverkehr. Die bisherigen Autobahn-Assistenten steuern zwar für eine kurze Zeit das Fahrzeug teilautonom. Sie können je nach Wetterlage lenken, bremsen, den Abstand halten und selbständig überholen. Der Fahrer ist aber gesetzlich verpflichtet, jederzeit manuell einzugreifen, wenn die Verkehrssicherheit es erfordert. Autos ohne Lenkrad werden noch lange auf sich warten lassen.
Und im Güterverkehr? Da wird es noch länger dauern. Insbesondere bei den Güterbahnen. Während digitale Straßen-Testfelder in mehreren Bundesländern existieren und vom Bund mit einem dreistelligen Millionenbetrag gefördert werden, hat die Bundesregierung den digitalen Wandel auf der Schiene verschlafen. Kein Bundesverkehrsminister war je auf einer teilautonom fahrenden Güterlok zu sehen und bis heute fließt kein Euro Steuergeld für ein digitales Testfeld Schiene.
Die digitale Realität im Schienengüterverkehr ist ernüchternd und hinkt dem Straßengüterverkehr um Jahre hinterher. Während nahezu jeder Lkw digital geortet und eine Vielzahl von Daten zum Zustand der Ladung und des Transportgefäßes im Straßengüterverkehr in Echtzeit digital kommuniziert werden, steckt die Digitalisierung der Güterbahn noch in den Kinderschuhen. Waggons werden manuell gekuppelt, Bremsproben manuell durchgeführt, der normale Güterwaggon verfügt nicht einmal über Strom. Technisch gibt es für alles zeitgemäße Lösungen, die auch am Markt verfügbar sind: Die automatische Kupplung, die das Rangieren von Waggons effizienter und sicherer machen, die automatische Bremsprobe, die nur ein Viertel soviel Zeit braucht, die Stromversorgung, die Güterbahnen unter anderem im wachsenden Markt der Kühltransporte wettbewerbsfähiger macht.
Die Frage, warum die Güterbahnen in Deutschland vorhandene Innovationen nur zögerlich nutzen, ist schnell beantwortet. Innovationen wie die automatische Kupplung kosten Geld, viel Geld sogar. Und die Güterbahnen verdienen kaum etwas. Die Bundesnetzagentur weist in ihren Marktberichten zum Schienengüterverkehr seit Jahren für die Güterbahnen negative Betriebsergebnisse aus – mit sich verschlechternder Tendenz. Lediglich die nicht bundeseigenen Unternehmen konnten in der aktuellen Untersuchung ein positives Ergebnis von 0,09 Cent je Tonnenkilometer einfahren.
Vor diesem Hintergrund ist es schon eine gewaltige Kraftanstrengung der Branche, auf eigene Kosten wenigstens die Ortung und Zustandserfassung der Güterwaggons voranzutreiben. Die Cargo-Tochter der Deutschen Bahn hat jüngst angekündigt, ihre 70.000 Güterwaggons und 2.000 Güterloks bis 2020 mit Telematik und Sensorik auszustatten. Die Ausrüstung der Güterwagen mit GPS liefert den Kunden den exakten Standort, Sensoren sollen Informationen über den Beladungszustand sowie die Temperatur und Feuchtigkeit im Wagen liefern. Auch die privaten Halter von Güterwaggons rüsten ihre Waggons auf. Das Hamburger Unternehmen VTG, Marktführer der privaten Waggonvermieter, will seine europäische Wagenflotte ebenfalls bis 2020 mit Sensoren und Telematiksystemen ausstatten. Dies ist zwar noch kein Schienengüterverkehr 4.0, wohl aber ein wichtiger Schritt dahin.
Derweil arbeiten Forscher des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Braunschweig am Güterzug der Zukunft. Firmen, die Güter auszuliefern haben, sollen einzelne Waggons per App buchen können. Ohne Lok soll der Waggon dann zur Verladestation rollen. Wenn mehrere Wagen die gleiche Strecke fahren, sollen sie sich von allein vernetzen und zu einem Zug zusammenschließen. Dann käme auch die Lok zum Einsatz, die Geschwindigkeiten von 400 Kilometer pro Stunde ermöglichen soll. Technisch wären wir wohl im Jahr 2030 so weit, prophezeit das DLR, weist aber darauf hin, dass „die Rahmenbedingungen“ noch deutlich länger auf sich warten lassen dürften.
Zu diesen „Rahmenbedingungen“ gehört eine digitale Infrastruktur. Im März hat die Deutsche Bahn im sächsischen Annaberg-Buchholz ihr erstes digitales Stellwerk in Betrieb genommen. Steuerungsbefehle für Weichen und Signale werden erstmals in Europa digital über Netzwerktechnik und nicht mehr über teils kilometerlange Kabelbündel übermittelt. Die von der Deutschen Bahn mit Inbetriebnahme ausgerufene „digitale Revolution im Schienennetz“ wird aber noch mindestens bis 2030 dauern, eher bis 2040. Denn nicht nur die Stellwerke müssen digitalisiert werden, auch die Leit- und Sicherungstechnik. Die mit den Ampeln im Straßenverkehr vergleichbaren Signale an den Gleisen werden dann nicht mehr existieren. Das europäische Leit- und Sicherungssystem ETCS macht sie überflüssig. Hier hat die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag ebenfalls Unterstützung angekündigt. Allerdings mit dem politisch unverbindlichen „wollen“ und nicht mit der nach Koalitionsvereinbarungs-Logik belastbareren Formulierung „werden“. Sprich: Das kann dauern, die Finanzierung ist noch ungeklärt.
In Australien beginnt die Zukunft des automatisierten Schienengüterverkehrs noch in diesem Jahr: Die Minengesellschaft Rio Tinto fährt inzwischen 60 Prozent aller Züge in dem Erzabbaugebiet Pilbara im fahrerlosen Betrieb, allerdings noch mit Fahrer auf der Lok. Ende 2018 sollen die Fahrer tatsächlich entfallen. In Deutschland und Europa wird der fahrerlose, vollautomatische Schienengüterverkehr auch in zehn Jahren noch Zukunftsvision sein. Ein Anfang ist immerhin gemacht.
Dieser Beitrag erschien am 10. April in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)
Dirk Flege ist seit 2001 alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der Allianz pro Schiene. Er ist mit Leib und Seele Schienenlobbyist. Zuvor war er Geschäftsführer verschiedener verkehrs- und umweltpolitischer Verbände.
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