Zwanzig lange Jahre saß André Kleinbölting im Fahrerhaus seines Lkw und alles sprach dafür, dass er auch die nächsten zwanzig Jahre dort sitzen würde. Doch der 43-Jährige hat auf die Bremse getreten und einen Neuanfang gewagt. Seit Oktober lernt Kleinbölting den Beruf Lokführer auf einer Akademie der SBB Cargo International. Die Allianz pro Schiene wird den Quereinsteiger durch seine zehnmonatige Ausbildung am Standort Köln begleiten und in loser Folge berichten: Plötzlich Lokführer erzählt von den Hochs und Tiefs, von Prüfungen und Weckern, die nachts um zwei zur Frühschicht rufen, von Dienstplänen, Schweiß und Freudentränen.
André Kleinbölting geht von der Theorie zur Praxis über und nimmt eine Lok in Betrieb
Grau ist alle Theorie und heiter der Himmel über Köln. Heute geht André Kleinbölting nämlich in allerbester Laune auf „Fahrt unter Aufsicht“. Mit Lokführerwarnweste bekleidet besteigt er um acht Uhr morgens am Kölner Hauptbahnhof einen Regionalexpress nach Duisburg. Dort wartet eine SBB-Cargo-Lok auf ihn, die er nach Wanne-Eickel fahren soll. Hier wird er um 14 Uhr einen 400 Meter langen Güterzug mit Metallabfällen vorspannen und diesen Zug bis 16 Uhr zurück nach Köln bringen. Soweit der Stundenplan. Was André in diesem Moment noch nicht weiß: Nichts wird heute nach Plan gehen. Und er wird es meistern müssen.
„Willkommen im Güterverkehr“, sagt sein Mentor Myroslav Gumaylo und schaut streng auf sein Tablet. „Wir müssen umdisponieren. Die Fahrt nach Duisburg ist gestrichen. Wir holen uns stattdessen eine Lok in Köln Eifeltor.“ Myroslav und André greifen ihre beiden Warnfarben-Rucksäcke, an denen Eingeweihte unter den Fahrgästen sofort den echten Lokführer erkennen, und mit einem Sprung stehen sie schon wieder auf dem Bahnsteig. André lacht: „Das fängt ja gut an. Änderungen kommen gerne nachts. Das passiert gar nicht mal selten.“ Also, Richtungswechsel, und zurück zum SBB-Cargo-Standort am Eifeltor.
Unterwegs fühlt der 29-jährige Mentor seinen deutlich älteren Schüler ein wenig auf den Zahn: „André, was ist eine Fahrt unter Aufsicht?“ André weiß es: Alles, was länger als 120 Minuten dauert. Ein Mentor muss dabei sein, aber ansonsten hat er aber alles so eigenständig wie möglich zu machen: Signale lesen, mit den Fahrdienstleitern sprechen, Geschwindigkeit im Auge behalten. „André, wie viele Fahrten brauchst du?“ Die Antwort kommt prompt: 36 Fahrten muss er machen, 16 davon hat er schon. Also, auf zu Abenteuer Nummer 17.
Die Lok ist nicht gleich zu finden. Myro und André treten in glühender Sonne einen Fußmarsch durch das weitverzweigte Gleisfeld an. Auf dem Werkstattgleis steht die BR 482 dann endlich – groß, mächtig und mit einem Graffiti an der Seite verunziert. „Die muss in die Werkstatt“, sagt Myro mit Blick auf den Plan. „Also André: Was machst du, wenn du eine Lok in Betrieb nimmst?“
André weiß, was er macht: Er geht um die Lok herum, schaut sich die Puffer an, die Dämpfer, Radsatzlager, den Fahrzeugmagneten, kontrolliert den Bremssand, Schläuche und Lichter. Dann erst geht’s auf den Führerstand. André greift sich ein gelbes Heft, das Bordjournal. Hier ist alles vermerkt, was den Kollegen auf früheren Fahrten mitteilenswert erschien: Reparaturen, Ausfälle, Auffälligkeiten. Bis auf die Schmierereien ist die Lok topfit. André betritt den Maschinenraum zwischen den beiden Fahrerkabinen und wirft einen Blick auf den Ölstand.
Dann geht alles auf einmal ganz schnell: Stromabnehmer hochfahren, Hauptschalter drücken, Fahrplan laden. Myroslav identifiziert die Strecke: „André, es geht über Köln Hauptbahnhof! Das ist heute dein Glückstag.“ Drei Stunden nach Dienstbeginn ist es endlich so weit: André greift zum Telefon und ruft den Fahrdienstleiter im Stellwerk an. „Na Kollege? Wohin soll’s gehen?“ Man duzt sich. Andrés Stimme klingt stolz, als er sagt: „Nach Duisburg, Kollege.“ Die Fahrgenehmigung ist erteilt, jetzt kann die Dienstfahrt beginnen.