„Interrail ist ein europäischer Mythos"

Martin Speer, Co-Initiator der Free-Interrail-Initiative über Europas Bahnen und die digital-ökologische Revolution

Martin Speer im Interview mit der Allianz pro Schiene.

Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer sind zwei Aktivisten, Schriftsteller und überzeugte Europäer. Mit ihrer Initiative „Free Interrail“ haben sie sogar die Europäische Union von ihrer Idee überzeugt, kostenlose Interrail Tickets an 18. Jährige zu verschenken. Wir haben uns passend zum Start des Europäischen Jahrs der Schiene mit Martin Speer zum Interview verabredet.

 

Allianz pro Schiene: Dank dir und deinem Kollegen Vincent-Immanuel Herr können tausende junge Menschen kostenlos mit einem Interrail-Ticket durch Europa fahren. Wie kamt Ihr auf die Idee?

Martin Speer: Wir waren im Jahr 2014 selbst mit Interrail unterwegs. Auf dieser Reise ist uns aufgefallen, wie elitär und wenig zugänglich die „europäische Erfahrung“ ist. Es gibt zwar Programme wie Erasmus, aber diese sind vielfach noch einer Minderheit vorbehalten. So entstand unsere ambitionierte Idee, jeder Person zum 18. Geburtstag einen 1-Monats Interrail-Pass zu schenken. Wir wollen dadurch ein „Erasmus für alle“ kreieren.

Wart Ihr überrascht vom Rückenwind, den Ihr erfahren habt?

Es war schon auch viel Klinken putzen und ein Weg, auf dem es immer wieder Rückschläge gab. Gleichzeitig waren wir aber auch total überrascht vom länderübergreifenden medialen und politischen Rückenwind. Vor dem Brexit-Hintergrund und zunehmenden internen Spannungen hat die EU nach einer Vision gesucht, wie Europa zusammengehalten werden kann und junge Menschen Perspektive finden. Dazu kommt: Die Idee ist einfach verständlich. Interrail ist ja an sich schon ein wahnsinnig tolles Produkt und ein europäischer Mythos. Damit verbinden hunderttausende Menschen lebensverändernde Erfahrungen.

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Das ist ein schöner Punkt: Mythos Interrail. Ist die Europäische Jugend inzwischen mehr Generation Easyjet als Generation Interrail?

Die Buchungszahlen von Interrail sind in den letzten Jahren jährlich nach oben gegangen. Trotzdem bleiben Beliebtheit und Nachfrage hinter der von Billigfliegern deutlich zurück. Interrail als System hat aber auch an Bekanntheit eingebüßt. Gleichzeitig ist das System weniger zugänglich als früher: Mehr Züge brauchen Reservierungen, es gibt weniger Nachtzüge und auch langläufige internationale Verbindungen wurden abgebaut. Von Hamburg direkt nach Genua? Das geht heute nicht mehr so einfach wie früher.

Eure Initiative FreeInterrail wird jetzt im DiscoverEU Programm umgesetzt und ist Teil der Erasmus-Familie. Wie zufrieden seid Ihr mit dem Start?

Dank des Programms haben seit 2018 schon rund 70.000 junge Leute in der EU ein Ticket bekommen. Im Oktober sollen die nächsten 70.000 Tickets in die Verlosung gehen und damit Reisen im Jahr 2022 möglich werden. Das ist ein unglaublicher Erfolg – vor allem in so kurzer Zeit.

Und gleichzeitig kämpfen wir natürlich auch weiterhin für die große Umsetzung. Das kostenlose Interrail-Ticket für alle 18-Jährigen würde nach Schätzungen 500 bis 750 Millionen Euro pro Jahr kosten. Wenn man sieht, wie viel Mittel wir an anderer Stelle zum Beispiel für Regionalflughäfen oder die Steuerbefreiung für Kerosin bei internationalen Flügen versenken, ist unsere Idee einfach ein smartes und nachhaltiges Investment in den europäischen Zusammenhalt und grüne Mobilität.

Was muss aus Eurer Sicht passieren, damit die Menschen nach Corona wieder in die Bahnen zurückkehren?

Ich bin optimistisch, dass die Menschen wieder zurückkommen, allerdings unter zwei Bedingungen. Europas Bahnen müssen den Leuten zum einen das Gefühl geben, dass sie bei ihnen Corona-sicher sind. Und zum anderen müssen die Angebote wirklich dem Anspruch europäischer Mobilität entsprechen. Das heißt mehr internationale Verbindungen, mehr Nachtzüge, einfacheres Ticketing. Bei der Internationalisierung des europäischen Bahnverkehrs war man jahrelang halbherzig unterwegs. Mit dieser Haltung wird die Mobilitätswende nicht gelingen.

Du hast bei der Auftaktveranstaltung zum Europäischen Jahr der Schiene gesprochen und gesagt, dass die Branche mehr jungen Menschen zuhören muss. Was meinst Du damit?

Die Bahnbranche hat jahrelang geglaubt, mit sehr technischen Argumenten und männlich geprägter Sprache die Kunden zu überzeugen. Doch Menschen treffen Mobilitätsentscheidungen auch mit dem Herzen und nicht nur mit dem Rechenschieber. Dieses Gefühl anzusprechen, das haben Europas Bahnen lange Zeit nicht gut gemacht. Das liegt nach meiner Beobachtung zum einen an der mangelnden Diversität in der Branche, zum anderen an der Reiseziel- statt Reiseroutenfokussierung. Im Gegensatz zum Flugzeug bietet die Bahn die ultimative europäische Reiseerfahrung. Ich komme nicht nur von A nach B, sondern habe auf dem Weg die Chance Europas kulturelle und geografische Vielfalt kennenzulernen, kann arbeiten, mich entspannen oder Menschen kennenlernen. Diesen Wettbewerbsvorteil sollten Europas Bahnen noch stärker ausspielen.

Habt Ihr denn konkrete Wünsche und Hoffnungen an das Europäische Jahr der Schiene?

Ich glaube, dass das Europäische Jahr der Schiene den größten Effekt in der Binnenwirkung hat. Ich wünsche mir, dass es Europas Bahnen als wake-up call begreifen. Wenn sie es schaffen, cleverer zu kommunizieren, weiblicher, bunter, jünger und europäischer werden, dann hätte dieses Jahr alles erreicht. Vor allem müssen wir alle, Reisende wie Bahnunternehmen verinnerlichen, dass die Bahnen eine zentrale Rolle dabei spielen, diesen Kontinent zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt zu machen.

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Kannst Du das noch etwas konkretisieren?

Europas Bahnen transportieren nicht nur Güter und Menschen, sondern auch Werte, Ideen und Haltungen. Die industrielle Revolution wäre ohne die Bahn nicht möglich gewesen. Aber auch die jetzt angestrebte digital-ökologische Revolution ist ohne die Schiene nicht denkbar. Die Bahnen sollten diese Rolle selbstbewusst annehmen und können dabei eine noch stärkere gesellschaftspolitische Kraft werden.

Dank der Bahn rücken Menschen auf dem Kontinent näher zusammen und können selbst Teil eines grünen Europas zu sein. Es gibt keinen European Green Deal ohne die Bahn! Gegenüber der Politik kann man diese System- und Zukunftsrelevanz ruhig ab und an noch selbstbewusster vortragen und zugleich sollte man jungen Menschen den Umstieg auf grüne Verkehrsträger erleichtern. Inspiriert von DiscoverEU fordert eine neue Initiative, Erasmus by Train, ein Interrail Ticket für alle Erasmus Teilnehmenden. Solche Vorschläge weisen den Weg.

Letzte Frage: Nach Corona – Wohin geht die erste Reise mit der Bahn?

Zwei Routen stehen ganz oben auf meiner Liste. Die Arlbergbahn von Innsbruck Richtung Schweiz. Und die Route von Berlin über Barcelona nach Mallorca. Bis in die Hauptstadt Kataloniens mit dem Zug und dann weiter mit der Fähre. Ich will ausprobieren, wie gut man auch in die Sonne ohne Flugzeug kommt.

Vielen Dank!

Wer mehr über die weiteren Projekte der Beiden erfahren möchte, wird hier fündig: www.herrandspeer.com