„Angst vor sozialem Kahlschlag ist unbegründet“

Studie des Fraunhofer-Instituts: Mobilitätswende kostet unterm Strich kaum Arbeitsplätze.

Mit Fahrrad und Bahn unterwegs. Die Verkehrswende kommt voran.
Die Mobilitätswende wird nicht zu einem massiven Verlust der Arbeitsplätze, sondern zu einem Strukturwandel des Arbeitsmarktes führen. Luisa Sievers und Dr. Claus Doll berichten im Interview zu den Hintergründen.

Zum ersten Mal haben Wissenschaftler die Beschäftigungseffekte einer Mobilitätswende untersucht. Mit überraschenden Erkenntnissen: Anders als im Autoland Deutschland befürchtet, droht durch eine andere Verkehrspolitik kein soziales Elend mit Massenarbeitslosigkeit.

Das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI rechnet mit einem Verlust von gerade 21 800 Stellen bis 2035, wenn Deutschland den öffentlichen Verkehr ausbaut. Aus Sicht der Forscher*innen Luisa Sievers und Dr. Claus Doll kommt es vor allem darauf, den massiven Strukturwandel am Arbeitsmarkt sozialverträglich zu gestalten.

Allianz pro Schiene: Eine Mobilitätswende ist klimapolitisch unverzichtbar, führt aber im Autoland Deutschland zu einem massiven Verlust an Arbeitsplätzen. So denken viele. Zu Recht?

Luisa Sievers: Die Mobilitätswende wird zu einem deutlichen Strukturwandel führen. Sie bringt in einzelnen Bereichen einen starken Verlust an Arbeitsplätzen, aber in anderen Branchen auch Gewinne in einem großen Umfang.

Allianz pro Schiene: Und wie sieht der Saldo aus?

Luisa Sievers: Unterm Strich halten sich die Beschäftigungseffekte in etwa die Waage. Die Mobilitätswende wird nicht zu einem größeren Verlust an Arbeitsplätzen führen. Wir werden aber große Verschiebungen zwischen Branchen sehen. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, diesen Strukturwandel zu gestalten.

WIe wirkt sich eine Verkehrswende auf die Arbeitsmarktsituation aus?

Allianz pro Schiene: Trotzdem noch einmal die Frage: Wo sind Arbeitsplatzverluste zu befürchten?

Luisa Sievers: In den nachhaltigen Mobilitätsszenarien unserer Studie kommt es vor allem im Straßengüterverkehr und in der Herstellung und der Instandhaltung von und dem Handel mit Kraftfahrzeugen zu einem Abbau von Arbeitsplätzen. Wir erwarten an anderer Stelle aber auch den spürbaren Aufbau an neuen Arbeitsplätzen. Die entstehen im öffentlichen Verkehr, durch den Ausbau der Infrastruktur für den öffentlichen Verkehr und bei neuen Mobilitätsdienstleistungen wie zum Beispiel Car-Sharing.

Claus Doll: Der Strukturwandel durch eine Verkehrswende ist enorm. Man kann Arbeitskräfte nicht einfach regional und zwischen Branchen ‚verpflanzen“. Wenn einem Automobilbauer die Stelle in einem Autowerk gestrichen wird, kann er nicht ohne Weiteres sofort in der neuen Mobilität eine andere Tätigkeit übernehmen. Die hierfür notwendige Umschulung und Qualifizierung ist eine gewaltige Aufgabe. Noch ist weitgehend unklar, wie die bewältigt werden soll. Aber dies heißt keineswegs, dass dies nicht möglich wäre.

Allianz pro Schiene: Gerade die Autoindustrie bietet hoch bezahlte Arbeitsplätze. Droht durch den Strukturwandel im Verkehr eine Zunahme schlecht bezahlter Tätigkeiten oder gar von prekärer Beschäftigung?

Luisa Sievers: In der Tat gehen Stellen verloren in Bereichen, die gewerkschaftlich sehr gut organisiert sind, in denen die Gewerkschaften und die Belegschaften über Jahrzehnte gute Bedingungen für die Arbeitnehmer erkämpft haben. Anderseits zeigt unsere Studie auch: Wenn wir das gesamte System betrachten, zeigt sich bei dem Szenario nachhaltige Mobilität sogar ein höherer Bedarf an Experten und Spezialisten als im Status Quo. Und die können in aller Regel gute Gehälter und gute Arbeitsbedingungen durchsetzen.

Wenn wir das gesamte System betrachten, zeigt sich bei dem Szenario nachhaltige Mobilität sogar ein höherer Bedarf an Experten und Spezialisten als im Status Quo.

Allianz pro Schiene: Sie unterscheiden in Ihrer Studie drei Szenarien: Ein Weiter-So, eine Verkehrswende vor allem mit mehr Elektromobilität auf der Straße (Szenario E-Straße 2035) und eine mit einem höheren Anteil des öffentlichen Verkehrs (Szenario Multi-Modalität 2035). Beim Vergleich zeigt sich, dass der Ausbau der Elektromobilität auf der Straße beschäftigungsfreundlicher ist. Spricht dies dafür, diesen Weg zu forcieren?

Luisa Sievers: Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind wichtig, aber nicht das einzige Kriterium für die Entscheidung über die künftige Mobilität. Hinsichtlich des Klimaschutzes fällt das Szenario Multi-Modalität etwas besser aus. Dabei wurde beim Szenario E-Straße bereits unterstellt, dass der zusätzlich benötigte Strom komplett aus erneuerbaren Ressourcen erzeugt wird. In sozialer Hinsicht ist zu beachten, dass der Individual-Verkehr von den einzelnen Personen und Haushalten höhere Ausgaben verlangt als der öffentliche Verkehr. Daher ist der Zugang zu Mobilität im Szenario E-Straße weniger gerecht verteilt als im Szenario Multi-Modalität.

Allianz pro Schiene: Was beinhaltet die Verkehrswende in dem Szenario Multi-Modalität konkret?

Claus Doll: Wir haben uns bei der Verlagerung auf die Schiene auf die Ziele des EU-Weißbuches 2011 gestützt. Dies sieht eine Verlagerung im Personen- und Güterverkehr auf Mittel- und Fernstrecken von 50 Prozent auf die Bahnen vor. Potenziale zur Verlagerung auf neue geteilte Mobilitätsdienste und autonom fahrende Fahrzeuge lehnen sich hingegen an aktuelle Studien, unter anderem aus der Mobilitäts- und Kraftstoffstrategie der Bundesregierung an. Im urbanen Verkehr sehen wir damit deutliche Anteilsverluste vom motorisierten Pkw-Verkehr und einen Ausbau des Umweltverbundes aus öffentlichem Verkehr, Fuß- und Radverkehr. Dadurch würden auch die Städte 2035 ganz anders aussehen als die vielfach sehr autofreundlichen Städte von heute. 

Luisa Sievers: In dem Szenario Multi-Modalität geht der Besitz an privaten Autos deutlich zurück – vom Ausgangsjahr 2015 mit etwa 550 Pkw pro 1000 Einwohner auf 300 im Jahr 2035. Dieser Rückgang erklärt sich auch durch die Annahme, dass die externen Kosten des Individualverkehrs internalisiert werden. Das heißt: Autofahrer müssen für die gesellschaftlichen Folgen etwa durch Klimabelastung oder Luftverschmutzung zahlen. Autofahren würde also teurer. 

Die Mobilitätswende ist eine Notwendigkeit.

Allianz pro Schiene: Ein sozialer Kahlschlag droht laut Ihrer Studie durch eine Wende hin zu nachhaltiger Mobilität keinesfalls. Was ist Ihr Rat an die Politik?

Claus Doll: Es gilt, die Mobilitätswende zu gestalten. Die Angst vor einem sozialen Kahlschlag durch neue Verkehrsdienstleistungen und -technologien ist grundsätzlich unberechtigt. Die Autoindustrie steckt ohnehin in einer Krise, auch ohne die neue Mobilität. Wir erleben parallel zur Mobilitätswende gewaltige Veränderungen durch die Globalisierung, durch den Umbau der Städte, durch neue Technologien. Das heißt, wir befinden uns in einem Transformationsprozess, den wir organisieren müssen. Der Gesamtverlust der Arbeitsplätze durch eine aktiv gestaltete Mobilitätswende ist dabei voraussichtlich verschmerzbar. Hinzu kommt: Der Fachkräftemangel trifft die Industrie zunehmend. Es könnte also von Vorteil für die Industrie sein, auf Prozesse umzustellen, die weniger Arbeitskräfte benötigen.

Luisa Sievers: Ich möchte das unterstreichen. Die Arbeitsplatzeffekte für die Autoindustrie könnten sogar noch negativer ausfallen, wenn man den Mobilitätswandel nicht vorantreibt. Wenn wir in Deutschland die Transformation aktiv gestalten, steigen die Chancen, hier Wertschöpfung und Beschäftigung halten zu können. Die Mobilitätswende ist eine Notwendigkeit. Wir brauchen sie, um den Klimawandel zu begrenzen. Hierzu muss der Verkehr einen Beitrag leisten. Da können wir nicht einfach sagen: Das wollen wir nicht.

Allianz pro Schiene: Vielen Dank für das Interview.

 

Das Interview führte Markus Sievers (Pressesprecher der Allianz pro Schiene und nicht mit der Interviewpartnerin verwandt)

Markus Sievers - Pressesprecher der Allianz pro Schiene