24 Züge pro Stunde und pro Richtung werden ab dem Jahr 2018 auf der Thameslink-Strecke zwischen den Londoner Stationen St. Pancras International und Blackfriars unterwegs sein. Möglich wird der Rekord-Takt durch einen hochautomatisierten Fahrbetrieb: Die automatische Zugsteuerung (ATO) übernimmt auf bestimmten Streckenabschnitten die Steuerung des Zuges, der Triebfahrzeugführer überwacht das System. Möglich wird der fliegende Wechsel durch das europäische Zugbeeinflussungs-/sicherungssystem ETCS, die Technik dafür kommt von Siemens. Im Interview mit der Allianz pro Schiene sprechen Dr. Markus Pelz und Dr. Volker Knollmann, beide Ingenieure bei Siemens, über das neue System und warum das Londoner Projekt auch für deutsche Metropolregionen hoch interessant ist.
Allianz pro Schiene: Herr Pelz, zwischen den Londoner Bahnhöfen St. Pancras und Blackfriars fahren die Thameslink-Züge demnächst im automatisierten Betrieb. Erzählen Sie uns von dem Projekt.
Markus Pelz: Das Ziel ist es, die Kapazitäten auf der Thameslink-Strecke signifikant zu steigern. Ohne neue Gleise zu bauen, gibt es solche Zuwächse nur im hochautomatisierten Betrieb. Auf der stark ausgelasteten Londoner Stammstrecke ermöglicht ATO künftig kürzere Zugfolgezeiten und damit eine höhere Taktung. Konkret heißt das: Im Regelbetrieb 24 Züge pro Stunde, pro Gleis und Richtung – und das mit einer Verfügbarkeit von 99 Prozent. Durch optimale Beschleunigungs- und Auslaufkurven spart das System außerdem Energie. Dabei werden weiterhin die Bremsen geschont, was wiederum den Schienenlärm und den Verschleiß reduziert.
Viele Metrolinien in Europa sind schon heute im vollautomatisierten Betrieb. Die Zugsteuerung mithilfe von ETCS abzuwickeln ist jedoch neu.
Markus Pelz: Richtig, diese Kombination realisieren wir in London jetzt erstmalig. Die ETCS- und ATO-Komponenten der Infrastruktur und im Zug kommunizieren miteinander. Auf Basis dieser Daten koordiniert das Verkehrsleitsystem (Traffic Management System TMS) die Zugbewegungen, die wiederum von der ATO ausgeführt wird. Durch die Automatisierung können wir auf diesen Streckenabschnitten im typischen Nahverkehrstakt fahren. Denn Thameslink ist ja eigentlich eine Regionalverbindung.
Worin liegt das Potential dieser Mischung?
Volker Knollmann: Das Londoner Modell ist auch für urbane Räume in Deutschland interessant, zum Beispiel für Frankfurt oder das Ruhrgebiet. Ohne weiteres ist es hier nicht möglich, neue Strecken zu bauen. Mit dem automatisierten Betrieb lässt sich stattdessen die Taktung erhöhen. Das wäre eine Möglichkeit, die Engpässe in diesen Ballungsräumen aufzulösen. In ländlichen Gegenden, also auf längeren Strecken, lohnt sich ATO vor allem aufgrund der Energieeinsparung. Im Gegensatz zu klassischen Zugsicherungs- bzw. Zugbeeinflussungssystemen, bietet ETCS eine sehr gute Grundlage für den automatisierten Betrieb.
Die EU schreibt vor, das europäische Kernnetz mit ETCS auszurüsten. Fahren dann automatische Züge durch Deutschland?
Markus Pelz: ETCS ist ein wesentlicher Baustein für das Zusammenwachsen Europas im Bahnverkehr. Es löst die bisher mehr als 20 existierenden nationalen Eisenbahnleit- und –sicherungssysteme auf dem europäischen Kontinent ab. Das passiert nicht von heute auf morgen. Dafür sind erhebliche Investitionen in die Infrastruktur und die Ausrüstung der Züge notwendig. Das europäische Ziel hinter ETCS ist, einen interoperablen und damit wettbewerbsfähigen Bahnverkehr zu schaffen. Mit ETCS ist die Basis für einen hochautomatisierten Verkehr gelegt und die Bahnbetreiber sind zukunftssicher aufgestellt. Siemens war und ist maßgeblich an der Spezifikation des Systems beteiligt. In Deutschland ist die sogenannte VDE8 zwischen Berlin und München die erste Bahnstrecke, die mit ETCS ausgestattet wird. Siemens hat hier gemeinsam mit dem Konsortialpartner Kapsch CarrierCom Deutschland GmbH die Neubaustrecke von Ebensfeld über Erfurt bis Halle beziehungsweise Leipzig mit Eisenbahnleit-, Sicherungs- und GSM-R-Technik ausgerüstet. In der Schweiz wurde fast das gesamte Netz auf ETCS umgestellt. Mit Blick auf ihre länderspezifischen Systeme haben sich auch beispielsweise Dänemark, Norwegen und Belgien dazu entschlossen, größere Teile ihres Netzes auf ETCS umzustellen. Auch im nichteuropäischen Ausland ist der EU-Standard sehr gefragt. Aktuell rollt Siemens zum Beispiel ETCS in Algerien und der Türkei aus.
Volker Knollmann: Unsere Vision ist, dass ab 2050 alle Fahrzeuge autonom fahren werden, also auf der Straße und der Schiene. Insbesondere bei geringer Verkehrsdichte werden sich Fahrzeuge verbinden oder gruppieren, um größere Distanzen zu überwinden. Der Verkehrsfluss wird durch intelligente Straßen / Schienen und dezentrale Leitstellen unterstützt. Das Sicherheitsniveau wird sich für hohe und geringe Verkehrsdichten erheblich verbessern, Energieverbrauch verringern und Kapazitäten und Flexibilität werden immens gesteigert. Übergangsfrei intermodal zu reisen wird der Normalfall sein.
Müssen Lokführer aufgrund der Automatisierung um ihre Jobs fürchten?
Markus Pelz: Lassen Sie mich hier zwei Beispiele nennen. Mit der Automatisierung der U-Bahnlinien in Paris und in Nürnberg gingen keine Arbeitsplätze verloren. Im Gegenteil: Die Automatisierung zum fahrerlosen Betrieb schaffte neue Laufbahnmöglichkeiten für die Fahrer. Die Mitarbeiter wechselten entweder als Fahrer auf eine andere Linie, wurden in der Leitzentrale weitergebildet oder übernehmen Service-Tätigkeiten am Bahnsteig. Der Beruf wird in Zukunft deutlich vielfältiger.
Vielen Dank für das Gespräch
Das Interview führte Christopher Harms