Am 3. Oktober veröffentlichte der Europäische Rechnungshof einen Sonderbericht mit dem Titel „Ein einheitliches europäisches Eisenbahnverkehrsleitsystem: Wird die politische Entscheidung jemals Realität?“. Das Resümee: das Europäische Eisenbahnverkehrsleitsystem (ERTMS) wird in der EU bisher nur wenig und lückenhaft eingesetzt. Und das, obwohl das Konzept von der Eisenbahnbranche im Allgemeinen nicht infrage gestellt wird. Deutschland kommt beim Anteil seiner ERTMS-Strecken auf gerade mal ein Prozent. Damit liegt es deutlich unter dem europäischen Durchschnitt von acht Prozent.
Die Idee für ein einheitliches ERTMS wurde bereits Ende der 1980er-/ Anfang der 1990er-Jahre entwickelt. Ziel ist es, ein einheitliches Signal- und Sicherungstechniksystem in Europa zu schaffen, das Zügen grenzüberschreitende Fahrten durch die Union ermöglicht. Denn auch heute existieren EU-weit noch rund 30 verschiedene Systeme zur Steuerung des Eisenbahnverkehrs. Das führt mitunter zu Unterbrechungen im internationalen Zugverkehr, was wiederum die Wettbewerbsfähigkeit der Schiene schwächt. Ein einheitlicher Standard ist demnach aus europäischer Sicht äußerst sinnvoll. Um die Mitgliedstaaten bei der ERTMS-Einführung zu unterstützen, wurden von 2007-2013 etwa 1,2 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt bereitgestellt. Für den Zeitraum von 2014-2020 wird der Gesamtbetrag auf 2,7 Milliarden Euro geschätzt.
Der Europäische Rechnungshof hat nun geprüft, ob das ERTMS ordnungsgemäß geplant, eingeführt und verwaltet wird und ob sich das System für die Mitgliedstaaten wirtschaftlich lohnt. In dem dazu veröffentlichen Sonderbericht wird der geringe Einsatz von ERTMS-Systemen in der Praxis bemängelt. Infrastrukturbetreiber und Bahnunternehmen würden nur zögerlich in die Technik investieren, da sich diese für sie selbst noch nicht lohnen würde. Zu hoch seien die Kosten.
Das Dilemma: Während ERTMS aus gesamteuropäischer Sicht hohen Nutzen bringt und sich Kosten und Aufwand lohnen, rechnet sich das System aus rein nationaler Sicht nicht. Die EU-Finanzmittel können jedoch nur einen begrenzten Teil der Investitionen decken, so das Urteil der Prüfer. Der Europäische Rechnungshof sieht nun das Ziel eines einheitlichen Eisenbahnraums in Gefahr und befürchtet negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs im Vergleich zum Straßengüterverkehr.
Im Sonderbericht werden schlussendlich Handlungsempfehlungen ausgesprochen, die einen Ausweg aus dem Dilemma bringen sollen. So soll sich die EU-Kommission mit den Mitgliedsstaaten auf verbindliche Ziele einigen, wann die nationalen Signalsysteme außer Betrieb genommen werden. Darüber hinaus sollen zusammen mit dem Schienensektor finanzielle Mechanismen geprüft werden, damit sich die ERTMS-Einführung auch für Verkehrsunternehmen und Infrastrukturbetreiber lohnt. Außerdem soll eine Bewertung der Gesamtkosten der ERTMS-Einführung und ein gezielterer Einsatz der EU-Finanzmittel erfolgen.
Ein Blick auf die Grafik zeigt, wo das Zugleitsystem ERTMS in der EU schon realisiert ist. In Deutschland sind nur 80 von 8.193 Streckenkilometern der Kernnetzkorridore mit ERTMS ausgestattet. Dies entspricht einem Anteil von gerade einmal einem Prozent. Deutschland liegt damit weit unter dem europäischen Durchschnitt von acht Prozent. Nachbarländer wie Luxemburg (88 Prozent), Niederlande (44 Prozent) und Belgien (38 Prozent) sind dabei Spitzenreiter. Das bescheidene Abschneiden Deutschlands beim ERTMS-Ausbau ist allerdings kein Sonderfall: Auch beim EU-Ranking über die gesamten staatlichen Investitionen ins Schienennetz landet Deutschland weit abgeschlagen hinter den europäischen Nachbarn. Während die Schweiz sich die Schiene etwa 378 Euro pro Einwohner kosten lässt, investiert Deutschland nur 64 Euro.
Der ERTMS-Ausbau ist Kernbestandteil des jüngst veröffentlichen Forderungskatalogs „Fahrplan Zukunft“ der Allianz pro Schiene. So sollte der Bund mit dem Bahnsektor unter Einbezug der Europäischen Eisenbahnagenturen umgehend einen Masterplan entwickeln, um den Ausbau einer einheitlichen Leit- und Sicherungstechnik schnellstmöglich voranzutreiben. Dabei sollte der Bund die Ausstattung von Infrastruktur und Fahrzeugen mit einem Sondertitel finanziell unterstützen.