Ruth Niehaus hat den Grundstein für eine Weltpremiere gelegt: Die 45-jährige Wirtschafts- und Elektrotechnik-Ingenieurin hat dafür gesorgt, dass in Schleswig-Holstein die erste batterieelektrische Zugflotte von 55 Zügen im regelmäßigen Linienverkehr unterwegs ist.
Das Tolle daran: Viele Dieselzüge in Schleswig-Holstein können abgelöst werden. Wegen fehlender Oberleitungen war das bislang nicht möglich. Durch die Akkuzüge wird der Schienenverkehr jetzt viel umweltfreundlicher.
Anders als bei früheren Akkuzügen, die vor dem Einsatz an spezielle Ladestationen angeschlossen werden mussten, können die neuen Akkuzüge auch auf Streckenabschnitten mit Oberleitung während der Fahrt Energie nachladen. Damit das funktioniert, müssen Zug und Streckeninfrastruktur zusammengedacht werden. Als Projektleiterin bei der Nahverkehrsverbund Schleswig-Holstein GmbH (NAH.SH) hat Ruth Niehaus mit großem Durchhaltevermögen dafür gesorgt, dass seit Oktober 2023 die ersten Akkuzüge zwischen Kiel, Lübeck und Lüneburg rollen. Dafür erhält sie von der Allianz pro Schiene den Clara Jaschke Innovationspreis.
Frau Niehaus, mal ganz blöd gefragt: Wieso ist das eigentlich so schwierig, Akkuzüge flächendeckend ins Schienennetz zu integrieren, damit sie ganz selbstverständlich Menschen von A nach B bringen?
Im Prinzip ist das nicht schwierig, aber wir mussten ja relativ von vorn anfangen. Zuerst musste ein entsprechender Akkutriebzug entwickelt werden, der möglichst lange Strecken elektrisch ohne Oberleitung fahren kann. Während der Pandemie war das alles nicht so einfach, aber mit Stadler hatten wir da einen zuverlässigen Partner an der Seite.
Zudem mussten das Regelwerk und die entsprechenden Programme bei der DB Netz AG angepasst werden, weil es das bisher noch nicht gab, zwischen Oberleitung und Akkubetrieb hin- und herzuwechseln.
Die Grundlagen sind jetzt da, und nun sollte es ganz selbstverständlich werden, dass die Menschen mit einem Akkutriebzug von A nach B kommen.
In Schleswig-Holstein haben Sie ja die besondere Situation, dass es viele Lücken bei den Oberleitungen gibt. Und dass es bei den Entfernungen nicht ausreicht, den Zug nur einmal vor Abfahrt aufzuladen.
Ja, wir haben an vielen Stellen eine Oberleitung, die wir auch für die Akkutriebzüge nutzen. Aber zum Beispiel an der Westküste gab es keine Oberleitung. Hier sind an drei Bahnhöfen sogenannte Oberleitungsinselanlagen (Oberleitung nur im Bahnhof) gebaut worden. Mit diesen Anlagen und einigen kleineren Veränderungen an den Oberleitungen können die Akkuzüge nun mit einer Ladung ganz entspannt von A nach B kommen – und das gilt auch bei größeren Störfällen.
Die Batterien können sowohl im Stand nachgeladen werden, wenn der Zug im Bahnhof hält, als auch während der Fahrt, wenn eine entsprechende Oberleitung vorhanden ist.
Anfang Oktober war es dann so weit, dass der erste Zug in den Linienbetrieb gestartet ist und Menschen von Kiel nach Oppendorf befördert hat. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
Der 1. Oktober 2023 war ein ganz besonderer Tag für mich und für alle, die an dem Projekt beteiligt sind. Der erste Zug im Fahrplanbetrieb fuhr um 7:08 Uhr vom Kieler Hauptbahnhof ab. Trotz der frühen Zeit waren neben mir viele Kolleginnen und Kollegen und Projektbeteiligte aus ganz Deutschland nach Kiel gekommen, um Teil dieser ersten Fahrt zu sein. Die Anspannung war schon da, und trotzdem habe ich mich total auf den Tag gefreut, und so war das frühe Aufstehen an dem Sonntag auch kein Problem. Die Fahrt selbst ging dann ziemlich schnell: Von Kiel nach Oppendorf ist es ja wirklich keine Weltreise, man ist nur elf Minuten mit dem Zug unterwegs.
Aber es war so eine positive, ausgelassene Stimmung. Und dann haben natürlich die Champagnerkorken geknallt, nachdem wir ganz reibungslos angekommen waren. Und kurz darauf ging es auch schon wieder zurück.
Nun ist das mit den Akkuzügen für Eisenbahnfans ja eine technisch total faszinierende Sache. Aber wie ist das, wenn man als Fahrgast einfach nur zur Arbeit kommen will. Hat man da auch was von den neuen Zügen?
Oh ja, der Unterschied ist sogar gewaltig. Die Dieselfahrzeuge waren ja immer sehr laut und haben auf der Fahrt ordentlich vibriert. Bei den neuen Zügen ist der Sitzkomfort ein ganz anderer, es gibt größere Abstände zwischen den Sitzen und mehr Beinfreiheit. Und nicht nur das: Als wir bei unserer Premiere losgefahren sind, hat ein Teil der Fahrgäste gar nicht mitgekriegt, dass wir schon fahren, weil man fast geräuschlos über die Gleise schwebt. Es ist wirklich ein komplett neues Fahrgefühl und macht richtig viel Spaß.
Wie geht es jetzt weiter? Sie haben ja ganz ehrgeizige Klimaziele in Schleswig-Holstein…
Genau, wir wollen bis 2030 klimaneutral mit unserem Zugverkehr in Schleswig-Holstein sein. Also komplett weg vom Diesel. Deshalb setzen wir jetzt nach und nach mehr Akkuzüge auf die Schiene. Seit Ende Oktober 2023 etwa fahren die Akkuzüge nun auch zwischen Kiel, Lübeck und Lüneburg, also eine deutlich weitere Strecke, etwa 80 Kilometer. Im Netz Ost wollen wir bis zum Jahresende dieselfrei unterwegs sein.
Die neuen Fahrzeuge werden bis nächstes Jahr nach und nach ausgeliefert, sodass wir dann weitere Strecken vom Diesel befreien können. Unser Ziel ist, dass wir ab dem Sommer 2024 mit der ganzen Akku-Flotte unterwegs sind.
Damit sind wir allerdings insgesamt noch nicht vollständig klimaneutral unterwegs. Die wichtige Verbindung an der Westküste von Hamburg nach Sylt wollen wir in den nächsten Jahren mit einer Oberleitung elektrifizieren. Und auch für die kleineren Netze, die aktuell noch mit Diesel gefahren werden, gibt es Pläne.
Es bleibt also viel zu tun die nächsten Monate. Mir wird es jedenfalls nicht langweilig.
Klopfen denn jetzt auch andere Verkehrsbetriebe bei Ihnen an und wollen von Ihren Erfahrungen profitieren?
Es gab schon von Anfang an ein großes Interesse aus dem Ausland an unserem besonderen Akkubetrieb. Hier klopfen Verkehrsbetriebe etwa aus Tschechien, Dänemark, Großbritannien und aus Schweden an, kommen vorbei und wollen sich das mal angucken. Aber auch die anderen Verkehrsverbünde in Deutschland fragen gerne nach, wollen von unseren Erfahrungen profitieren und die Triebzüge auch mal bei sich Test fahren lassen.
Mit dem Clara Jaschke Preis zeichnen wir ja gezielt innovative Frauen aus der Bahnbranche aus. Wie war das eigentlich in Ihrem Projekt? Waren Sie als Frau eher die Henne im Korb?
Nein, das ist tatsächlich ganz schön bei der NAH.SH und in diesem Projekt. Auch die technische Projektleitung beim Hersteller, mit der ich eng zusammengearbeitet habe, ist eine Frau. Da gab es also von Anfang an viel Frauenpower bei den Akkuzügen. Wir hatten Projektsitzungen, an denen nur ein einziger Mann teilgenommen hat. (lacht)
Dass ich nun den Clara Jaschke Innovationspreis erhalte – darüber freue ich mich wirklich riesig. Ich denke, ich kann auch stolz sein auf das, was ich zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen von Stadler und DB geschafft habe. Ich bin also vor allem stolz auf unsere gemeinsame Teamleistung.
Es ist gut, wenn Frauen in der Bahnbranche sichtbarer werden und sowohl das Bahnfahren als auch die Arbeitsplätze sich viel stärker an weiblichen Bedürfnissen orientieren. Ich finde, dass ein höherer Frauenanteil wirklich das Betriebsklima verbessert. Und natürlich die Ergebnisse. Mit unserem Akkuzug haben wir es gezeigt: Die Eisenbahn braucht Frauenpower!
Vielen Dank.