Mobilität ist ein Grundbedürfnis aller Menschen. Gleichzeitig stößt der Verkehr längst an seine Grenzen. Staus auf unseren Straßen verkehren Mobilität in Stillstand. Weite Wege gehen zulasten von Freizeit und Familienleben. Verkehr hat zudem dramatische Schattenseiten: Er schadet Mensch und Natur und ist ein Großemittent des klimaschädlichen CO2. Mobilität und Verkehr stehen in Deutschland und Europa vor großen Veränderungen. Die anstehende Verkehrswende ist eine Gestaltungsaufgabe, die Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in den kommenden Jahren gleichermaßen fordern wird. In diesem Sinne formulieren ADFC, Allianz pro Schiene, Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), IG Metall und Zukunft Fahrrad erstmals gemeinsam Forderungen für das Gelingen der Verkehrswende. Ihre unterschiedlichen Perspektiven und Expertisen verstehen sie dabei als Stärke, denn nur im Zusammenspiel der verschiedenen Akteure, Verkehrsmittel und Innovationen kann das gemeinsame Ziel gelingen, den Verkehr nachhaltig zu gestalten.
Die verschiedenen Verkehrsmittel müssen dem Mobilitätsbedürfnis der Menschen dienen, wobei den energieeffizienten und klimaschonenden Fortbewegungsarten die Zukunft gehört. Alle motorisierten Verkehrsmittel fahren künftig klimaneutral. Das gilt einerseits für den zukünftigen PKW Verkehr. Und wir brauchen andererseits ein neues Zusammenspiel und einen anderen Verkehrsträger-Mix mit einer deutlich gestärkten Rolle von Schienenverkehr, öffentlichem Verkehr und Radverkehr sowie einer neuen, darauf abgestimmten und in Anzahl und Wege-Umfang reduzierten Rolle des Automobils.
Mit dem Deutschlandtakt und dem Nationalen Radverkehrsplan gibt es in der Politik bereits konsentierte Zielbilder, die richtungsweisend sind. Auch im ländlichen Raum muss es künftig besser möglich sein, ohne bzw. ohne eigenes Auto mobil zu sein. Der Umweltverbund muss eine flächendeckend verfügbare Mobilitätsform in Deutschland sein – in der Stadt und auf dem Land. Unser Ziel ist eine Mobilitätsgarantie. Das bedeutet definierte Mindeststandards im ganzen Land und einen gesetzlichen Anspruch auf Mobilitätsdienstleistungen – so wie es in der Schweiz heute schon Realität ist und in Österreich im Regierungsprogramm steht. In Deutschland brauchen wir dafür massive Angebotsverbesserungen im Umweltverbund, ein durchgängiges Radwegenetz sowie sichere Radabstellanlagen, ein unkompliziertes Ticketsystem für den öffentlichen Nah- und Fernverkehr, deutlich erhöhte Regionalisierungsmittel und erheblich mehr Personal im öffentlichen Verkehr.
Angebote für Bike-, Roller- und Car-Sharing sowie für Park & Ride müssen konsequent mit dem Schienenpersonennahverkehr und dem übrigen öffentlichen Verkehr verzahnt werden, damit sie zum Gelingen der Verkehrswende beitragen. Es muss einfach und komfortabel sein, das Fahrrad sicher am Bahnhof abzustellen, es im Zug mitzunehmen oder am Zielbahnhof ein Fahrrad auszuleihen. Hierfür sind erhebliche Zukunftsinvestitionen für 1,5 Million zusätzliche Fahrradstellplätze an Bahnhöfen und Nahverkehrszüge mit Fahrradplätzen notwendig.
Die Zukunft des Güterverkehrs ist klimaneutral und multimodal. Regionale Wirtschaftskreisläufe reduzieren die Anzahl notwendiger Gütertransporte. Der energieeffiziente Schienenverkehr transportiert auf längeren Strecken einen immer größeren Anteil der Güter, die beim Lkw verbleibenden Anteile des Langstreckenverkehrs werden mit batterieelektrischen oder H2 Brennstoffzellen Lkw gefahren, E-Lkw fungieren als Zubringer zu den Umschlagbahnhöfen des Kombinierten Verkehrs (Straße, Schiene, Binnen-/Seeschiffe), und in der City-Logistik spielen Radlogistik, emissionsfreie Kleintransporter und öffentlicher Verkehr in der Feinverteilung ihre jeweiligen Stärken aus.
Gleisanschlüsse und der Einzelwagenverkehr auf der Schiene sind für viele Industriezweige und -standorte sehr wichtig. Deshalb muss der Bund seine Förderung ausbauen und verstetigen. Auch die Umrüstung der Güterwagen auf die Digitale Automatische Kupplung (DAK) bis 2030 sollte jetzt bundesseitig und europäisch umfassend finanziell unterstützt werden.
Viele Transportgefäße müssen für das bessere Zusammenspiel der Verkehrsträger noch passend gemacht werden. So sollte der Bund künftig die Ausstattung neuer Lkw-Sattelanhänger für den Transport mit der Schiene fördern und sich auf EU-Ebene für eine Verpflichtung bei Neufahrzeugen einsetzen. Die Bundesförderung von Umschlagterminals muss aufgestockt und die Genehmigungsverfahren müssen beschleunigt werden. Neue Logistikstandorte sollten im Regelfall nur mit Gleisanschluss genehmigungsfähig sein, Mikro-Hubs nur mit einer fahrrad- bzw. radlogistikgerechten Infrastruktur.
Von einer deutlichen Veränderung des Verkehrsträgermixes im Güterverkehr würden nicht nur Klima- und Umweltschutz profitieren, dies wäre auch ein Beitrag zu mehr Energieeffizienz und Entlastung der Straßen.
Während das Autobahnnetz in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich wuchs, ist das Bundesschienennetz seit der Bahnreform 1994 um 12 Prozent geschrumpft und der Weg hin zu einem durchgängigen Radverkehrsnetz in Deutschland ist noch weit. Autobahnen und Bundesstraßen hat Deutschland genug, Schienenstrecken und Radschnellwege viel zu wenig. Für die Erweiterung des Schienennetzes ist eine Verdopplung der staatlichen Neu- und Ausbauinvestitionen auf jährlich 4 Milliarden Euro im Bedarfsplan notwendig. Die 2019 begonnene Radwegeausbauoffensive muss der Bund fortsetzen und intensivieren. Um Länder und Kommunen beim Ausbau durchgängiger, sicherer Radwegenetze in Städten und Regionen sowie von Radschnellwegeverbindungen angemessen zu unterstützen, muss der Bund Finanzhilfen in Höhe einer jährlichen Fahrradmilliarde bereitstellen. Im Bereich des Straßenverkehrs ist der Aufbau von Ladeinfrastrukturen für E-Antriebe – PKW und LKW die große und drängende Aufgabe.
Auch wenn die Investitionsnotwendigkeiten pro Verkehrsträger beim Neu- und Ausbau höchst unterschiedlich sind, leiden alle Verkehrsinfrastrukturen unter einem Sanierungsstau. Sowohl Bundesfernstraßen als auch Bundeswasserstraßen, Bundesschienenwege und in Baulast des Bundes errichtete Radwege haben einen erheblichen Nachholbedarf beim Bestandserhalt.
Für die Verkehrswende brauchen wir einen verkehrsträgerübergreifenden Infrastrukturfonds nach Schweizer Vorbild mit Finanzierungssäulen für die Bahn, den ÖPNV sowie den Fuß- und Radverkehr, der aus verschiedenen Quellen gespeist wird. Ohne diese Neuausrichtung der Infrastruktur-Finanzierung lassen sich bis zum Jahr 2030 weder die von der Bundesregierung angestrebten 25 Prozent Marktanteil der Güterbahnen noch die Verdopplung der Verkehrsleistung im Schienenpersonenverkehr und im Radverkehr erreichen. Um die Klimaziele im Verkehrssektor zu erreichen, ist eine Verdreifachung der Radverkehrsinfrastruktur erforderlich. Das braucht eine sichere Finanzierungsgrundlage.
Kommunen müssen die nötigen Gestaltungsmöglichkeiten erhalten, um nachhaltige Mobilitätskonzepte konsequent umzusetzen und an den Zielen des Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutzes sowie der städtebaulichen Entwicklung auszurichten. Dazu muss die eingeleitete Reform des übergeordneten Straßenverkehrsgesetzes (StVG) und darauf aufbauend der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) fortgesetzt werden. Die vorerst im Bundesrat gescheiterten Gesetzentwürfe der Bundesregierung bleiben hinter diesen Anforderungen des Koalitionsvertrags zurück und sind nachzubessern. Die Flüssigkeit des (Kfz-)
Verkehrs darf nicht höher gewichtet werden als der grundgesetzlich garantierte Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit. Zur Verbesserung der Verkehrssicherheit muss das Prinzip der Unfallprävention im Straßenverkehrsrecht verankert und am Leitbild der „Vision Zero“ (keine Getöteten und Schwerletzten) ausgerichtet werden.
Die neue StVO muss die vorgesehene erweiterte Ermächtigung des StVG besser nutzen. Statt einen kleinteiligen Ausnahmenkatalog ein weiteres Mal zu erweitern, muss den Straßenverkehrsbehörden generell mehr Entscheidungsspielraum gewährt werden.
Als Grundsatz muss bei allen steuerlichen Lenkungsinstrumenten im Verkehrssektor gelten: Die am wenigsten klimaschädlichen Verkehrsmittel werden am stärksten gefördert. Das ist bisher nur unzureichend der Fall. Freiwerdende Steuermittel sollten in die Verkehrswende investiert werden. Dies kann und sollte auch über die Umschichtung bestehender Mittel zum Beispiel aus dem Fernstraßenbau, über zusätzliche oder veränderte Steuern sowie über den Umbau von Besteuerungselementen im Mobilitätsbereich geschehen, etwa eine stärkere Ausrichtung der Besteuerungselemente im KfZ-Bereich auf den CO2-Ausstoß (z.B. KfZ-Steuer oder Dienstwagenbesteuerung). Diese Anpassungen wirken dann nicht nur ökologisch, sondern auch sozial.
Bahnreisende dürfen bei internationalen Fahrten nicht länger gegenüber Flugreisenden benachteiligt werden, die keinerlei Mehrwertsteuer auf grenzüberschreitende Tickets zahlen müssen. Angesichts der galoppierenden Strompreise muss der Bund die Bahnen auch von der EU-weit höchsten Stromsteuer befreien. Die Mehrwertsteuer für Fahrraddienstleistungen und den Verkauf von Rädern muss der Bund schnellstmöglich auf den ermäßigten Satz von sieben Prozent reduzieren. Die Abschreibungsdauer von Fahrrädern, Pedelecs und Fahrradanhängern sollte von sieben auf die betriebsübliche Nutzungsdauer von vier Jahren verkürzt werden.
Bisher werden Beschäftigte durch die Entfernungspauschale bei der Einkommenssteuer entlastet. Pendlerinnen und Pendler mit einem höheren Einkommen erhalten bei gleicher Fahrstrecke einen größeren Vorteil als solche mit einem geringeren Einkommen. Mit der Umwandlung der Entfernungspauschale in ein pauschales Mobilitätsgeld, das unabhängig vom Einkommen und Verkehrsmittel gewährt wird, können dagegen insbesondere kleine und mittlere Einkommen entlastet werden. Menschen, die wegen ihres geringen Einkommens wenig oder keine Steuern zahlen, werden nicht benachteiligt und erhalten das Mobilitätsgeld ebenfalls in voller Höhe.
Die dringend notwendigen Veränderungen im Mobilitätssystem haben enorme Auswirkungen auf die Beschäftigung in der Mobilitätswirtschaft. Das betrifft vor allem eine Vielzahl von Arbeitsplätzen in der Fahrzeug- und Automobilindustrie, die an der Verbrennungstechnologie hängen. Durch den Antriebswechsel, die neuen Ansätze intermodaler und vernetzter Mobilität, die notwendigen Infrastrukturaufgaben sowie die Stärkung von öffentlichem Verkehr, Radverkehr und Schienenverkehr entstehen aber auch neue Arbeitsplätze. Sie entstehen innerhalb der Automobilindustrie (z.B. Batteriezellfertigung, Batterie-Recycling, Brennstoffzellentechnologie, Elektromotor, Software), in angrenzenden Branchen (z.B. Energieinfrastruktur, stationäre Brennstoffzellen, Speichertechnologie, Ladeinfrastruktur) und in den wachsenden Branchen von Bahnindustrie und Fahrradindustrie über das Handwerk bis hin zum wachsenden Arbeitskräftebedarf im Öffentlichen Verkehr.
Für einen gelingenden Wandel ist es wichtig, dass deren Qualität der Qualität der wegfallenden Arbeitsplätze mindestens entsprict. Das betrifft das ganze Spektrum der Kriterien „Guter Arbeit“ (DGB Index) vom Einkommen über Einfluss- und Entwicklungsmöglichkeiten, Arbeitszeit und Sinn der Arbeit bis hin zu Beschäftigungssicherheit, Tarifbindung und Mitbestimmung. Es ist außerdem zentral, dass neue Wertschöpfung und neue Beschäftigung auch dort entstehen, wo bestehende Strukturen durch den Wandel unter Druck geraten.
Hier muss die Politik die Transformation aktiv begleiten, durch eine aktive Industriepolitik, Instrumente der Weiterbildungspolitik (Qualifizierungsgeld, Bildungsteilzeit, Verbesserung des Transfer-Kurzarbeitergeldes), Unterstützung von Unternehmen im Wandel (Innovationsförderung, im Extremfall auch Liquiditätshilfen zur Investition in neue Geschäftsmodelle), und regionale Strukturpolitik in besonders betroffenen Regionen (Clusterförderung, regionale Transformationsnetzwerke, Weiterbildungsverbünde).
Bei öffentlichen Aufträgen muss die regionale Wertschöpfung eine bedeutsame Rolle spielen und vertraglich fixiert werden. Neben einer klimagerechten und Innovationen berücksichtigenden Vergabe (MEAT-Prinzip) muss der Grundsatz „fairer Lohn für gute Arbeit“ als Kriterium verbindlich verankert werden. Das EU-Beihilferecht muss in dem Punkt reformiert werden, da es bisher bei außereuropäischen Subventionen nicht greift. Es sollte eine Mindestwertschöpfungsquote von 50 Prozent für „Made in Europe“ (Art. 85 2014/25/EU) bei Bietern aus Drittstaaten und bundesgesetzlich in Deutschland bei der Fahrzeugbeschaffung öffentlicher Verkehrsunternehmen sowie bei der Beschaffung im Rahmen der Vergabe öffentlicher Verkehrsdienste – insbesondere im ÖPNV und SPNV – implementiert werden.
Tariftreue und Personalübergang beim Betreiberwechsel, hohe Selbsterbringungsquoten für zentrale Leistungen sowie Ausbildungsverpflichtungen müssen im SPNV und ÖPNV gesetzlich festgeschrieben werden. Ziel muss ein Wettbewerb unter Berücksichtigung von Umwelt-, Sozial- und Qualitätsstandards sein.