Deutschland wird statistisch gesehen immer sicherer – der öffentliche Personenverkehr (ÖPV) auch. Und doch fühlen sich viele Fahrgäste in Bus und Bahn oftmals nicht sicher. Woran liegt das? Und was können Verkehrsunternehmen tun, um ihren Fahrgästen ein sicheres Gefühl zu geben? Diese und viele weitere Fragen hat sich der Kommunikationswissenschaftler Dennis Reichow von der Uni Bremen gestellt. Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung untersucht er in einer groß angelegten Studie die Wirkung von Kommunikation auf das Sicherheitsempfinden der Fahrgäste. Im Interview verrät er, welche Rolle Soziale Medien wie Facebook dabei spielen, welche Bilder den Fahrgästen Angst machen, und was Verkehrsunternehmen tun können um das Sicherheitsempfinden nachhaltig zu steigern.
Herr Reichow, zu Beginn mal Hand aufs Herz: Sind Sie ein ängstlicher Bahnfahrer?
(Lacht) Nein, überhaupt nicht. Ich fahre im Moment jedoch auch nicht mehr so viel Bahn wie früher, sondern eher mit dem Fahrrad. Das liegt einerseits an dem schönen Wetter und anderseits daran, dass ich mit dem Rad noch schneller bei der Arbeit bin.
Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung haben Sie die Wirkung von Online-Medienberichterstattung auf das Sicherheitsempfinden der Fahrgäste im ÖPV untersucht. Was war der Anlass für Ihre Studie?
Die Idee für die Studie hat sich über mehrere Jahre entwickelt. Im Juli 2016 ging es dann los mit der Forschung. Daran beteiligt sind neben dem Ministerium auch die FU Berlin, die TH Wildau, Fraunhofer Fokus und der Praxispartner Deutsche Bahn.
Was haben Soziale Medien wie Facebook mit dem Sicherheitsgefühl der Menschen im ÖPV zu tun?
Grundsätzlich ist es so, dass viele Studien bisher gezeigt haben, dass es eine große Kluft zwischen objektiver Sicherheit und subjektivem Sicherheitsempfinden gibt. Wir als Forscher wissen ja, dass die objektive Sicherheitslage im ÖPV sehr gut ist. Trotzdem zeigen Umfragen, dass sich viele Fahrgäste oftmals nicht so sicher fühlen. Wir haben uns gefragt, wo dieses Gefühl herkommt. Liegt es daran, dass jemand insgesamt vielleicht eher ängstlich ist, hat er vielleicht Viktimisierungserfahrungen – oder hat vielleicht auch die Kommunikation Einfluss auf das Sicherheitsgefühl, zum Beispiel die Medienberichterstattung. Zur Kommunikation gehören aber beispielsweise auch Kommunikationskampagnen oder andere Informationsangebote von den Betreibern. In der Kommunikationswissenschaft gibt es nun ganz viele verschiede Ansätze, wie man herausfinden kann, was das Sicherheitsempfinden von Menschen beeinflusst. Eine unserer Umfragen hat sich daher auf Social Media konzentriert, und dabei vorrangig auf die Rolle von Bildern, also die visuelle Kommunikation.
Und warum ging es ausgerechnet um Bilder?
Der Grund ist ganz einfach der, dass gerade in den sozialen Medien, zum Beispiel bei Facebook, die Bilder eine sehr wichtige Rolle spielen. Wenn zum Beispiel eine Regionalzeitung ein Posting zum „U-Bahn-Treter von Berlin“ macht, dann sind in dem Bericht sehr, sehr wenig greifbare Informationen drin. Oftmals bestehen solche Artikel ja nur aus einer Überschrift und einem kurzen Teaser-Text. Das bedeutet, man wird mit sehr wenig Informationen ausgestattet, hat aber gleichzeitig auch ein sehr präsentes Bild vor Augen. Meine Vermutung war dann, dass unterschiedliche Bilder unterschiedliche Auswirkungen auf das Sicherheitsempfinden haben. Und unsere Forschung hat das ganz klar bestätigt.
Wie und mit welchen Bildern berichtet wird, beeinflusst also maßgeblich das Sicherheitsempfinden der Menschen?
Ganz genau. Wenn Bilder vom Tathergang gezeigt werden – diese typischen Videoüberwachungs-Aufnahmen zum Beispiel – dann löst das eine sehr starke Empathie mit dem Opfer aus. Und das führt gleichzeitig zu einer Verringerung des eigenen Sicherheitsempfindens. Denn wenn ich Empathie mit dem Opfer habe, dann kann ich mich auch in seine Rolle hineinversetzen und kann mir vorstellen, dass ich eventuell in eine ähnliche Situation geraten könnte. In den Daten ist außerdem ersichtlich, dass neben Bildern vom Tathergang auch Fotos und Videos vom Täter die Furcht der Menschen erhöhen, selbst Opfer von einer Tat zu werden. Das sieht ganz anders aus, wenn in der Berichterstattung neutralere Bilder verwendet werden, zum Beispiel Stock-Bilder von einer fahrenden Bahn oder ähnliches.
Inwiefern stimmt denn überhaupt die tatsächliche Realität mit der Medienrealität überein?
Zu dem Thema haben wir eine kleine Studie in Form einer Zeitreihenanalyse durchgeführt. Dazu haben wir die Häufigkeit von Delikten, die in der Medienberichterstattung auftauchen mit der Häufigkeit von tatsächlichen Straftaten in der Realität verglichen. Es gab dabei über die Zeit gesehen keine erkennbare Korrelation – es besteht also überhaupt kein statistischer Zusammenhang zwischen den beiden Phänomenen. Das zeigt, dass die Medienberichterstattung über Delikte im ÖPV relativ willkürlich ist und die Realität gar nicht richtig widerspiegelt. In Wahrheit ist es nämlich so, dass sich die Sicherheit im ÖPV seit Jahren verbessert. Durch die Berichterstattung entsteht eine Verzerrung der Realität, die erhebliche Auswirkungen auf das Sicherheits- und Risikoempfinden der Menschen hat. Je mehr Massenmedien jemand konsumiert, desto wahrscheinlicher schätzt derjenige die Risiken im ÖPV ein und desto unsicherer fühlt er sich.
Sie sprachen vorhin über Empathie, die der Leser eines Artikels mit dem Opfer einer Straftat entwickelt. Ist dieses Gefühl hauptverantwortlich dafür, dass sich Menschen unsicher fühlen in der Bahn? Oder gibt es auch noch andere Gründe dafür?
Das Gefühl der Empathie spielt eine sehr wichtige Rolle – gerade hinsichtlich der Medienberichterstattung. Hinzu kommt aber auch, was wir Wissenschaftler „Heuristik“ nennen. „Heuristiken“ sind im Prinzip vereinfachte Denkregeln. Der Mensch greift auf das zurück, das am leichtesten verfügbar ist, wenn er Situationen einschätzt. Das kann man an einem Bespiel verdeutlichen: Ich bin in der Bahn, meinetwegen abends, und ich sehe eine Gruppe betrunkener und lärmender Jugendlicher. Und gestern habe ich einen Bericht gesehen, in dem einer von Jugendlichen in der Bahn verprügelt wurde. Dann denke ich in diesem Moment automatisch an diese Bilder. Das ist der Moment, in dem die „Heuristik“ greift, was dazu führt, dass ich Situationen eventuell völlig falsch einschätze. Ich bekomme zum Beispiel Angst vor diesen Jugendlichen, obwohl es unbegründet ist. Das passiert natürlich besonders oft, wenn Medien sehr häufig über eine bestimmte Art von Vorfällen berichten.
Heißt das im Umkehrschluss, dass Sie Journalisten in der Pflicht sehen, solche Dinge bei Ihrer Berichterstattung zu berücksichtigen?
Das ist ein sehr schwieriges Thema. Wir haben in Deutschland die Pressefreiheit und Journalisten sollten natürlich das schreiben können, was sie für berichtenswert halten. Ich als Sozialwissenschaftler habe die Wunschvorstellung, dass wir mit unseren Studien der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Aus meiner Sicht sollten eher die Leser reflektieren, was sie konsumieren. Ich wünsche mir auch mehr Reflektion des eigenen Verhaltens in den Sozialen Medien. Viele Themen bauschen sich erst durch die Reaktionen der Nutzer so richtig auf.
Sie meinen durch Kommentare?
Genau. Viele, teilweise auch sehr hasserfüllte, Kommentare unter Beiträgen entwickeln eine ganz eigene Dynamik. So kann aus einem Beitrag, in dem es um eine Straftat im ÖPV geht, ganz schnell ein „Danke Merkel-Flüchtlingsthema“ werden. An dieser Stelle ist dann auch gut geschultes Personal der Verkehrsunternehmen gefragt, das gezielt eingreift. In einer Inhaltsanalyse haben wir mal untersucht, wie viele Hasskommentare unter so einem Bericht zu finden sind, in denen es um Delikte geht, die im ÖPV geschehen sind. Das Ergebnis war erschreckend: Knapp 22 Prozent der Kommentare haben Beleidigungen beinhaltet. Das wäre so, als würde ich Sie in jedem vierten Satz beleidigen. Das ist schon ziemlich krass.
Haben Sie herausfinden können, wie sich Alter und Geschlecht auf das Sicherheitsempfinden im ÖPV auswirken?
Tendenziell fühlen sich ältere Menschen eher unsicherer als jüngere. Und Männer fühlen sich signifikant sicherer als Frauen.
Und wie wichtig ist Ihrer Meinung nach das Sicherheitsgefühl für die Wahl des Verkehrsmittels?
Das ist glaube ich von sehr vielen verschiedenen Faktoren abhängig: Bequemlichkeit, muss ich Sachen transportieren, wie gut ist die Anbindung und so weiter. Es ist auch tageszeitabhängig, wie wichtig etwa der Faktor Sicherheit für meine Verkehrsentscheidung ist. Die Befragung hat deutlich gezeigt, dass sich Fahrgäste nachts unsicherer fühlen als tagsüber. Dann fällt die Entscheidung zu später Stunde vielleicht eher auf das Taxi. Der Faktor Sicherheit rückt aber in den Hintergrund, wenn ich täglich mit der Bahn fahre und die Situation für mich eine gewohnte ist. Fahrgäste, die häufiger im ÖPV unterwegs sind, fühlen sich deutlich sicherer als Gelegenheits-Fahrgäste.
Was war für Sie die überraschendste Erkenntnis, die Sie herausgefunden haben?
Ich fand besonders spannend, wie sich das Sicherheitsempfinden der Fahrgäste auf die Smartphone-Nutzung auswirkt. Wenn sich Menschen unsicher fühlen, dann suchen sie nach einer Bewältigungsstrategie und da kommt dann häufig das Smartphone zum Einsatz. Menschen machen das aus zwei Gründen: Das erste Nutzungsmotiv ist „soziale Präsenz“. Das meint ganz einfach das Empfinden nicht alleine zu sein, während ich mit jemandem über technische Hilfsmittel kommuniziere, also mit jemandem telefoniere oder chatte. Das zweite Nutzungsmotiv ist der sogenannte „Eskapismus“. Das besagt einfach, dass ich den Drang habe vor etwas zu fliehen, was mir unangenehm ist. Ich fliehe also quasi von der realen Welt in die Smartphone-Welt. Das Sicherheitsempfinden der Fahrgäste hat also indirekt einen Einfluss auf die Smartphone-Nutzung der Fahrgäste.
Und hilft die Nutzung des Smartphones dann auch tatsächlich dabei, dass sich die Fahrgäste sicherer fühlen?
Ja. In unserer Umfrage haben die Teilnehmer angegeben, dass sie sich deutlich sicherer gefühlt haben, wenn sie während der Fahrt mit einem anderen Menschen in Kontakt standen.
Dann wäre es doch sicherlich eine gute Idee, wenn die Verkehrsunternehmen einen Service anbieten würden, per Smartphone mit den Fahrgästen zu kommunizieren?
Ja, absolut. Wir machen diese Studien ja auch nicht einfach so aus Spaß – wir wollen Lösungen entwickeln. Wenn man dann so eine Erkenntnis hat, wie wichtig die Kommunikation per Smartphone beispielsweise ist, dann sollte man diese auch nutzen. Verkehrsunternehmen könnten die klassischen „Routenplaner“-Apps gerade auch für sicherheitsrelevante Mitteilungen nutzen und so den Fahrgästen signalisieren „Hey, wir sind da für dich“.
Und welche Maßnahmen könnten Ihrer Meinung nach außerdem noch zu einem erhöhten Sicherheitsempfinden der Fahrgäste beitragen? Was halten Sie etwa von Videoüberwachung, Notrufsäulen und mehr Sicherheitspersonal?
Ich selbst halte nicht viel von Videoüberwachung – aber das ist Geschmackssache. In unseren Umfragen haben viele Menschen gesagt, dass sie sich mehr Sicherheitspersonal und Polizeipräsenz wünschen. Ich glaube aber, dass das zu kurz gegriffen ist. Natürlich kann Sicherheitspersonal helfen, wenn objektiv etwas passiert. Aber es ist ja nicht so, dass ständig etwas passiert. Daher muss man schauen, dass man Maßnahmen ergreift, die das Sicherheitsgefühl auf eine latente Art und Weise erhöhen. Es kann ja auch sein, dass eine Situation völlig entspannt ist und auf einmal laufen fünf Polizisten an mir vorbei. Dann fühle ich mich unsicher, weil ich die Polizisten sehe und mir dann Gedanken mache, ob eine Gefahr besteht. Das heißt, solche Sicherheitsmaßnahmen sollten auch nicht überpräsent sein. Es ist also ganz und gar nicht einfach, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Harte Maßnahmen wie Videokameras erhöhen möglicherweise die objektive Sicherheit. Aber wie wir wissen ist das Problem ja eher das subjektive Sicherheitsempfinden. Und ob sie das lösen können, wage ich anzuzweifeln. Ich als Kommunikationswissenschaftler glaube, dass alles, was eine kommunikative Verbindung zwischen Fahrgast und Betreiber schafft, hilfreich ist. Verkehrsunternehmen sollten also irgendwie latent kommunizieren „Wir sind da. Wir passen auf.“, das kann zum Beispiel über eine App funktionieren. Wir haben aber noch viele weitere Ideen, die wir im Rahmen der Studie weiterentwickeln werden.
Herr Reichow, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Carolin Flege.