Themen: Verkehrswende

Verkehrswende als Chance für den Standort Deutschland

Auszug aus dem gerade erschienenen Buch "Standort Deutschland - Herausforderungen und notwendige Reformen"

Gute Aussichten - viele Städte gehen in der Verkehrswende schon voran.
In der Mobilität haben wir zu lange auf „Weiter so“ gesetzt.

Dieser Text von Allianz pro Schiene-Geschäftsführer Dirk Flege ist gerade im Buch „Standort Deutschland – Herausforderungen und notwendige Reformen“ (Dieter Thomaschewski/Rainer Völker (Hrsg.)) erschienen.

 

Anfang des Jahrtausends wähnten sich Deutschlands Automobilisten noch an der Weltspitze. „Vorsprung durch Technik“ lautete der Werbespruch einer deutschen „Premiummarke“, der stellvertretend für das Selbstbewusstsein der ganzen Branche hierzulande stand.

Anfang des Jahrtausends begann ein japanischer Autobauer, seinen weltweit ersten Pkw mit Hybrid-Antrieb außerhalb Japans in Serie zu verkaufen. Als wenige Jahre später Hollywood-Stars sich in Kalifornien bereits mit dem Toyota Prius als Öko-Auto brüsteten, eilte in Deutschland die Zahl neu zugelassener Pkw mit Dieselmotor von Rekord zu Rekord und wir schauten weiterhin gönnerhaft auf vermeintlich rückständige asiatische Autobauer. Diese Arroganz kommt uns heute teuer zu stehen. Der Toyota Prius hat weltweit den Taxi-Markt erobert, die deutschen Autobauer stehen nach Milliarden-Strafzahlungen für Software-Manipulationen am Dieselmotor zur Einhaltung geltender Umweltgrenzwerte vor einem Scherbenhaufen. Heute ist der US-amerikanische Autoproduzent Tesla an der Börse mehr wert als Volkswagen, Daimler und BMW zusammen.

Verkehrswende verschlafen?

In Deutschland wurden in den vergangenen Jahren immer mehr Autos zugelassen. Während die Zahl der Bahnhöfe von 2009 bis 2019 um ein Prozent schrumpfte, stieg die Pkw-Dichte in demselben Zeitraum um zwölf Prozent auf 569 Pkw pro 1.000 Einwohner. Anders als in Deutschland zeichnet sich in Nordamerika, Skandinavien und den Benelux-Ländern bereits eine Trendwende ab.

Auch bei der Verkehrsinfrastruktur macht Deutschland unbeirrt weiter wie in den vergangenen Jahrzehnten: Die Autobahnlänge stieg zwischen 1995 und 2019 um 18 Prozent. Das Bundesschienennetz schrumpfte im selben Zeitraum um gut 20 Prozent. Bei der Elektrifizierung des Schienennetzes kommt Deutschland kaum voran und verharrt seit Jahren mit einem Anteil von rund 60 Prozent elektrifizierter Strecken im europäischen Mittelfeld.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass wir in Deutschland seit Jahren im Verkehr sämtliche Nachhaltigkeitsziele verfehlen. Egal ob Flächenverbrauch, Endenergieverbrauch oder CO2-Ausstoß: Der Verkehr ist das „Sorgenkind“ im Klimaschutz, wie es das Umweltbundesamt formuliert.

Keine Verkehrswende in Sicht: Der Verkehrsektor profitiert bei den CO2 Emissionen vom Corona Effek.

Ein wesentlicher Grund für diese Fehlentwicklung sind die Preise. Sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr spiegeln sie nicht die wahren Kosten wider, die der Verkehr verursacht. Jährlich entstehen alleine im Straßenverkehr in Deutschland 141 Milliarden Euro Folgekosten[1], die zu einem großen Teil nicht von den Verkehrsteilnehmern selbst getragen werden. Stattdessen werden diese Kosten auf die Allgemeinheit und auf kommende Generationen abgewälzt – durch Einbußen an Lebensqualität, durch höhere Steuern oder Krankenversicherungsbeiträge.

Klar ist: Volkswirtschaftlich können wir uns ein „Weiter so“ im Verkehr nicht mehr lange leisten.

Mobilität im tiefgreifenden Strukturwandel – Verkehrswende lokal auf dem Vormarsch

Die Städte marschieren bei der Verkehrswende vorneweg. In nahezu allen Metropolen Europas werden neue Fortbewegungsmittel wie E-Scooter ausprobiert, boomen Carsharing- und Rent-A-Bike-Dienstleistungen, wird der Straßenraum zugunsten aktiver Mobilität neu verteilt und der Öffentliche Personennahverkehr ausgebaut. Die Verkehrswende hat längst begonnen. Initiiert worden ist sie nicht von der Europäischen Union, nicht von den nationalen Regierungen, sondern von den Menschen in den Städten – und der jungen Generation.

Junge Menschen sind weniger autozentriert als ihre Vorgängergenerationen, sie wollen mobil sein. Das Smartphone gehört zu diesem modernen Mobilitätsbegriff genauso dazu wie das pragmatische Nutzen verschiedener Verkehrsmittel. Überhaupt sind die Menschen in Europa wechselfreudiger als viele Verkehrsplaner und Politiker glauben. Fast 50 Prozent der Reisenden haben in den vergangenen Jahren ihren Mobilitäts-Mix verändert, wie eine repräsentative Umfrage im Auftrag der Allianz pro Schiene in sechs europäischen Ländern ergab.[2] Wertewandel und Digitalisierung verstärken seit Jahren diesen Trend zur Multimodalität, der auch von der Corona-Pandemie nicht gestoppt werden wird.

Verkehrswende auf dem Arbeitsmarkt schafft neue Perspektiven

Dieser tiefgreifende Strukturwandel ist auch im Arbeitsmarkt angekommen. Die Autoindustrie baut Arbeitsplätze ab, während bei den Verkehrsmitteln des Umweltverbundes neue Arbeitsplätze entstehen. So sollen nach den Planungen von Ende 2020 bei Volkswagen, Daimler und BMW in den kommenden Jahren mehr als 50.000 Arbeitsplätze wegfallen. Bei der VW-Tochter Audi in Ingolstadt und Neckarsulm etwa jede sechste Stelle, am Daimler-Stammsitz in Stuttgart sogar jeder fünfte Arbeitsplatz. In der Bahnbranche arbeiten dagegen von Jahr zu Jahr mehr Menschen – im Durchschnitt kommt die Branche auf ein jährliches Beschäftigungsplus von drei Prozent. Allein die Deutsche Bahn AG stellt jährlich mehr als 20.000 neue Arbeitskräfte ein. Exemplarisch sichtbar wird der Arbeitsplatzaufbau im Schienensektor an der Zahl der Lokführer und Straßenbahnfahrer, die jährlich um vier Prozent und damit im Branchenvergleich leicht überproportional wächst.

Verkehrswende als Chance für den Standort Deutschland

Die Arbeitsmarktzahlen zeigen: Jede Veränderung ist auch eine Chance. Wohl kaum ein Beispiel in Deutschland veranschaulicht dies so plastisch wie Berlin und sein Umland. Während Daimler verkündet, im Motorenwerk in Marienfelde nicht mehr in den Verbrennungsmotor zu investieren, baut Tesla wenige Kilometer entfernt eine Produktionsstätte für E-Autos. In Marienfelde sind 2.500 Mitarbeiter von der Daimler-Konzernentscheidung betroffen, die um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen, in Grünheide will Tesla bis zu 12.000 Arbeitskräfte in der Giga-Factory beschäftigen.

Vorhersagen, wie sich eine Verkehrswende langfristig auf den Arbeitsmarkt auswirkt, sind naturgemäß mit vielen Unsicherheiten behaftet. Das Karlsruher Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung hat es in einer aufwändigen Modellberechnung versucht. In der Annahme, dass sich bis 2035 der Pkw-Verkehr halbiert, ICEs zwischen allen großen und mittleren Städten im 30-Minuten-Takt verkehren und Gütertransporte von der Straße auf die Schiene verlagert werden, kommen die Karlsruher Forscher auf 770.000 Arbeitsplätze, die entfallen, und 750.000 Arbeitsplätze, die neu entstehen. Den größten Aderlass prognostizieren die Forscher im Straßengüterverkehr (350.000 Arbeitsplätze) und bei der Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen (150.000), während im Carsharing- und Taxi-Segment beispielsweise 200.000 Arbeitsplätze entstehen sowie 150.000 beim Bau von Schieneninfrastruktur.

Auch wenn diese Zahlen nichts über die Qualität der Arbeitsplätze aussagen, machen sie doch eines klar: Das Totschlagargument „Verlust von Arbeitsplätzen“ zieht bei der Verkehrswende nicht. Die Wende kann auch eine Chance sein – vorausgesetzt die Politik erkennt die Möglichkeiten und nimmt eine aktive, gestaltende Rolle ein.[3]

Die Verkehrswende schafft mehr Lebensqualität, mehr Klimaschutz und mehr Verkehrssicherheit.

 

Eine Neuausrichtung der Verkehrspolitik, die sich am Credo „Mehr Mobilität mit weniger Verkehr“ orientiert und den verbleibenden Verkehr umwelt- und sozialverträglicher macht, bietet neben der Stärkung des Wirtschaftsstandortes weitere Vorteile: mehr Lebensqualität, mehr Klimaschutz, mehr Verkehrssicherheit.

Mehr Lebensqualität, weil weniger Kfz-Verkehr weniger Lärm, mehr Platz, bessere Luft und weniger Stau bedeutet. Im Gegenzug sorgen ein Deutschlandtakt auf dem Schienennetz und ein Ausbau des Öffentlichen Verkehrs auch in ländlichen Räumen für eine bessere Erreichbarkeit und eine attraktivere Mobilität.

Mehr Klimaschutz, weil Bahnen im Personenverkehr pro Personenkilometer nicht einmal ein Drittel so viel Treibhausgase produzieren wie der Autoverkehr und im Güterverkehr pro Tonnenkilometer nur ein Sechstel der Treibhausgase eines Lkw.[4]

Mehr Verkehrssicherheit, weil Bus und Bahn um ein Vielfaches sicherer sind als Pkw und Lkw. Das Risiko eines tödlichen Unfalls ist im Pkw 47mal höher als im Zug, das Verletzungsrisiko während einer Autofahrt sogar 137mal höher. Bei Gefahrguttransporten ist das Risiko eines Unfalls auf der Straße 42mal höher als auf der Schiene.

In der Summe wird die Verkehrswende die öffentlichen Haushalte enorm entlasten. Aktive Mobilität macht Menschen gesünder, es gibt weniger Verkehrsunfallopfer, und die externen Kosten des Verkehrs sinken. Pro Leistungskilometer verursacht der umweltschonende und sichere Schienenverkehr nur ein Drittel der externen Kosten des Straßenverkehrs. Diese versteckten Kosten sind Folgekosten, die zwar von Mobilitätsteilnehmenden verursacht, jedoch von Krankenkassenbeitrags- und Steuerzahlern sowie zum Teil von kommenden Generationen getragen werden. Die externen Kosten des Verkehrs in Deutschland belaufen sich auf 149 Milliarden Euro jährlich. Fast 95 Prozent dieser versteckten Kosten verursacht der Straßenverkehr, der Schienenverkehr weniger als vier Prozent.

Externe Kosten des Verkehrs in Deutschland zeigen: Wir brauchen eine wirkliche Verkehrswende.

Und schon heute wissen die Bürger, aber auch die verladende Wirtschaft mehr und besseren Schienenverkehr als Alternative zur Straße zu schätzen. Überall dort, wo eine echte Wahlmöglichkeit besteht und der öffentliche Verkehr einen dichten Fahrplan, gute Anschlüsse, moderne Fahrzeuge, einfache Tarife und Zuverlässigkeit bietet, lassen die Menschen immer häufiger der Pkw stehen, und die Fahrgastzahlen schießen in die Höhe. Beispiele finden sich im gesamten Land, in Ballungsräumen ebenso wie in ländlichen Regionen.[5] Auch im Güterverkehr wechseln zunehmend Verlader auf die Schiene. Die Gründe dafür sind vielfältig: Umwelt- und Klimaschutz sind hier nur ein Aspekt; ausschlaggebende Faktoren sind vor allem auch bessere Planbarkeit und Verlässlichkeit und die Kosten.[6]

Die Schiene als Innovationstreiber der Verkehrswende

Dem Schienenverkehr kommt eine Schlüsselrolle bei der Verkehrswende zu. Er ist volkswirtschaftlich effizient, leistungsstark und hat etliche Innovationspotenziale.

Beispiel: Digitale Automatische Kupplung

Bis heute nutzen die Bahnen in Europa die 1861 eingeführte Schraubenkupplung, mit der Rangier-Arbeiter die Güterwagen verbinden. Diese körperlich schwere Handarbeit belastet die Beschäftigten und verhindert, dass die Schiene im Güterverkehr all ihre Effizienzvorteile ausspielen kann. Mit automatisch und digital verbundenen Waggons steigert die Schiene ihre Kapazität und kann mit längeren und schwereren Güterzügen sowie einer schnelleren Abfertigung mehr Verkehr übernehmen. Zudem können diese modernen Güterzüge vorausschauend gewartet werden, so dass unnötige Standzeiten entfallen. In allen bedeutenden Wirtschaftsräumen der Welt wird im Schienengüterverkehr automatisch gekuppelt – nur in Europa nicht. Sogar etliche afrikanische Länder nutzen bereits automatische Güterzug-Kupplungen, allerdings ohne die digitalen Funktionen. Wir haben die Chance, mit der Umstellung sowohl zu automatisieren als auch zu digitalisieren. Von den hinteren Plätzen an die Weltspitze – das kann Europa mit der Digitalen Automatischen Kupplung mit einem Schlag schaffen.

Die Technik dafür ist vorhanden. Vier Hersteller in Europa produzieren die Zukunftskupplung. Die EU-Verkehrsminister wollen sich bis zum Jahr 2022 festlegen, welcher Kupplungstyp der Standard in der EU werden soll. Das haben sie in der „Berliner Erklärung“ im September 2020 angekündigt. Die Umrüstung sämtlicher Güterwaggons könnte dann zum Ende des Jahrzehnts abgeschlossen werden.

Beispiel: Digitale Schiene

In einem finanziellen und organisatorischen Kraftakt wollen der Bund und die Deutsche Bahn das gesamte Bundesschienennetz bis zum Jahr 2035 digitalisieren. Nötig sind dafür zum einen digitale Stellwerke, die ihre Befehle digital per Glasfaserkabel übermitteln und in Deutschland 400.000 Kilometer Kupferkabel sparen. Zum anderen ist die Ausstattung von Fahrzeugen und Strecken mit der europäischen Leit- und Sicherungstechnik ETCS erforderlich, die die 160.000 Signale an der Strecke überflüssig macht. Die neuen Technologien versprechen bis zu 20 Prozent mehr Kapazitäten im Netz, höhere Qualität und Pünktlichkeit, weniger Kosten in Instandhaltung und Betrieb durch die einheitliche Anlagenarchitektur, eine europäische Interoperabilität der Systeme sowie eine verbesserte Energieeffizienz. Die Umstellung von konventioneller Signaltechnik auf funkgesteuerten Bahnbetrieb ist neben dem weiteren Ausbau des Netzes und der Anwendung innovativer Technologien der wichtigste Hebel, um das System Eisenbahn leistungsfähiger und zukunftsfest zu machen.

Seit Dezember 2017 fahren zwischen Bamberg, Erfurt und Halle/Leipzig ICE-Züge mit ETCS und ohne Signale an der Strecke. Die ersten digitalen Stellwerke sind 2018 in Annaberg-Buchholz (Sachsen) und 2019 in Warnemünde (Mecklenburg-Vorpommern) in Betrieb gegangen.

Der Weg in die Zukunft. Ein durch ETCS digitalisierter Streckenabschnitt.
Der Weg in die Zukunft. Ein durch ETCS digitalisierter Streckenabschnitt.

Beispiel: Building Information Modeling (BIM)

Mit einem 3D-Computermodell, das um zusätzliche Informationen wie Zeit, Kosten oder Nutzung erweitert werden kann, kurz BIM (Building Information Modeling), können Bauvorhaben beschleunigt und kostengünstiger abgewickelt werden. Die Vorteile von Building Information Modeling liegen klar auf der Hand. Anstatt – wie in konventionellen Planungsmethoden – Informationen während der Planung unterschiedlicher Gewerke jeweils neu anzusammeln, werden die Daten über den gesamten Projektzeitraum kontinuierlich aufgebaut. Die Projektbeteiligten partizipieren von den Informationen ihrer Projektpartner, ohne diese neu oder doppelt eingeben zu müssen. Manuelle Übertragungsfehler werden reduziert. Durch die zentrale Datenhaltung und die Verwendung eines gemeinsamen Koordinationsmodells sind die Daten exakt und konsistent. Das digitale Infrastrukturmodell befindet sich stets auf dem aktuellen Planungsstand und ermöglicht den Projektbeteiligten Entscheidungen basierend auf einer soliden Datengrundlage.

Die für Bahnhöfe zuständige Infrastrukturtochter der Deutschen Bahn AG, die DB Station & Service AG, startete nach der erfolgreichen Realisierung von Pilotprojekten im Jahr 2016 die Planung von über 60 Bahnhofs-Projekten mit der BIM-Methodik. Seit dem 1. Januar 2017 werden alle neuen Bauprojekte der DB Station & Service AG mit der BIM-Methodik umgesetzt. Die für das Gleisnetz zuständige Infrastrukturtochter DB Netz AG wird die Einführung von BIM Ende 2020 abgeschlossen haben. Die Deutsche Bahn gehört damit zu den BIM-Vorreitern in Deutschland.

Beispiel: Ökostromanteil

Elektrische Antriebe gelten als die Zukunftsantriebe im Verkehr. Von allen motorisierten Verkehrsmitteln hat der Schienenverkehr hier auf absehbare Zeit einen uneinholbaren Vorsprung. Mehr als 90 Prozent der Verkehrsleistung auf der Schiene werden elektrisch erbracht, davon 60 Prozent mit Ökostrom – Tendenz weiter steigend. Bis zum Jahr 2030 strebt die Deutsche Bahn einen Anteil von 80 Prozent erneuerbarer Energien im Bahnstrommix an, bis 2038 sollen es 100 Prozent sein.

Status Quo: 90% der Verkehrsleistung ist im Eisenbahnverkehr bereits elektrisch

Beispiel: Autonomes Fahren

Noch fährt in Europa kein einziger Pkw fahrerlos. Im Schienenverkehr ist dies seit fast 40 Jahren Alltagsrealität. Europas erste fahrerlose U-Bahn nahm im Jahr 1983 im nordfranzösischen Lille ihren Betrieb auf. Mittlerweile fahren in 15 Metropolen Europas vollautomatische U-Bahnen und transportieren jährlich mehr als eine Milliarde Menschen – Peoplemover an Flughäfen nicht mitgerechnet. Im Vergleich zu einer konventionellen U-Bahn können selbstfahrende Metros durch kürzere Abstände zwischen den Bahnen 20 Prozent mehr Fahrgäste auf einem Streckenabschnitt transportieren, und der Energieverbrauch sinkt durch computergesteuertes Fahren um 30 Prozent. Auch die bei Metros üblicherweise hohe Pünktlichkeitsquote verbessert sich noch einmal.

In Deutschland fahren seit 2012 U-Bahnen in Nürnberg vollautomatisch, in Hamburg sollen im Oktober 2021, wenn in der Hansestadt der Weltkongress für intelligente Transportsysteme abgehalten wird, erstmals vier S-Bahnen der Linie 21 auf einem 23 Kilometer langen Abschnitt zwischen den Haltestellen Berliner Tor und Bergedorf im hochautomatisierten Betrieb unterwegs sein.

Beispiel: Energieeffizienz

Egal, ob E-Mobilität oder alternative Antriebe – eine Herausforderung im motorisierten Verkehr bleibt: den Energieverbrauch drastisch zu reduzieren. Deswegen sind energieeffiziente Verkehrsmittel auch künftig strategisch im Vorteil. Der Schienenverkehr ist dreimal energieeffizienter als der motorisierte Straßenverkehr. Auch ein Antriebswechsel im Straßenverkehr ändert nichts an dem physikalischen Fakt, dass Gummi auf Asphalt einen deutlich höheren Rollwiderstand erzeugt als Stahl auf Stahl. Insofern wundert es nicht, dass die Energieeffizienzgewinne sich zwischen 2005 und 2017 ungleich auf die Verkehrsträger verteilen. Laut Bundeswirtschaftsministerium und dem von ihm herausgegebenen „Zweiten Fortschrittsbericht zur Energiewende“ liegen die größten Effizienzgewinne mit 37,5 Prozent bei der Schiene, der Straßenverkehr kommt im selben Zeitraum lediglich auf eine Effizienzsteigerung von 7,5 Prozent.

Zeigt deutlich: Die Verkehrswende funktioniert nur mit der Schiene.

Politik muss handeln

Jahrzehntelang galt der Satz „Die Schiene bekommt die schönen Worte, die Straße das Geld“. Für den Klimaschutz im Verkehr wäre schon viel gewonnen, wenn Reden und Handeln in Einklang kämen. Ein Jahr vor der Bundestagswahl 2021 gibt es Grund für Optimismus. Mittlerweile gibt es einen „Masterplan Schienengüterverkehr“, einen „Masterplan Schienenverkehr“[7] und einen „Zielfahrplan Deutschlandtakt 2030“. Da Ziele und Programmatik Konsens sind, rückt nun das entschlossene Handeln umso mehr in den Mittelpunkt. Konzentrieren sollte die Politik sich auf drei Punkte:

  • Bahninfrastruktur ausbauen – für einen Deutschlandtakt mit mehr Fahrgästen und Gütern auf der Schiene
  • Bahnsystem digitalisieren – für Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit
  • Verkehrswende forcieren – für Klimaschutz und Lebensqualität

Angetrieben von den Protesten der Klimabewegung hat die Bundesregierung begonnen, die Ausgaben für die Schiene zu erhöhen. Das ist lobenswert, reicht aber nicht. Die schwarz-rote Bundesregierung folgt in ihrer Verkehrspolitik weiterhin dem Prinzip: Wir fördern alles – den Lkw genau wie das Flugzeug, die Schiene wie den Pkw. So aber kann keine Verkehrsverlagerung gelingen. Dabei hat der Deutsche Bundestag bereits 2019 einen Beschluss mit einer wegweisenden Leitlinie gefasst: „Der Schiene Priorität einräumen“.

Genau dies muss das Motto für die nächsten Jahre sein. Eine Pro-Schiene-Politik allein reicht nicht, um die Mobilität der Zukunft klimafreundlicher zu gestalten. Ein substanziell höherer Marktanteil der Bahnen bedeutet weniger Marktanteile für die Straße – sowohl im Güter- als auch im Personenverkehr. Dafür brauchen wir einen ganzheitlichen, einen verkehrsträgerübergreifenden Ansatz. Der 2011 bei den Lkw-Mauteinnahmen eingeführte Grundsatz „Straße finanziert Straße und keine anderen Verkehrsträger“ muss ersetzt werden durch „Verkehr finanziert Verkehr“. Beim Neu- und Ausbau von Verkehrsinfrastruktur muss der Ausbau der Schieneninfrastruktur Priorität im Bundeshaushalt bekommen und mindestens zwei Drittel des hierfür zur Verfügung stehenden Etats erhalten. Die Mauteinnahmen, der Abbau umweltschädlicher Subventionen und CO2-Abgaben erweitern den finanziellen Handlungsspielraum für die Forcierung der Verkehrswende.

Die Verkehrswende kostet der Gesellschaft kein Geld, sondern spart ihr gewaltige Summen.

Bei einer ganzheitlichen Betrachtung kostet eine klimafreundliche Verkehrspolitik die Gesellschaft kein Geld, sondern spart ihr gewaltige Summen. Die hohen Lasten von fast zweihundert Milliarden Euro pro Jahr durch Klimaveränderungen, durch Luftverschmutzung, durch Unfälle und vieles mehr gehen als so genannte externe Kosten in Deutschland nicht in die Kalkulation der Verkehrsteilnehmer ein. Stattdessen produziert der Staat durch falsche Preissignale immer mehr Lkw- und Pkw-Verkehr und bürdet die Folgen davon der Allgemeinheit auf. Eine derartige Subventionierung des Straßen- und Flugverkehrs ist nicht länger akzeptabel. Nötig ist mehr Kostenwahrheit im Verkehr. Das ist die Grundlage für eine echte Verkehrswende zum Wohle der Gesellschaft, der Umwelt und der Wirtschaft.

Dirk Flege - Geschäftsführer der Allianz pro Schiene

Dieser Text von Allianz pro Schiene-Geschäftsführer Dirk Flege ist gerade im Buch „Standort Deutschland – Herausforderungen und notwendige Reformen“ (Dieter Thomaschewski/Rainer Völker (Hrsg.)) erschienen.

 

 

 

Quellenverzeichnis

[1]Infras (2019): Externe Kosten des Verkehrs in Deutschland. Straßen-, Schienen-, Luft- und Binnenschiffverkehr 2017. Abgerufen am 05.11.2020 von https://www.allianz-pro-schiene.de/wp-content/uploads/2019/08/190826-infras-studie-externe-kosten-verkehr.pdf

[2] UseMobility (2013): Warum wechseln Reisende in Europa das Verkehrsmittel? Fakten und Implikationen für Politik und Anbieter. Abgerufen am 05.11.2020 von https://www.allianz-pro-schiene.de/wp-content/uploads/2015/10/USEmobility_policy-brief-deutsche-fassung.pdf

[3]Allianz pro Schiene (2011): Die zukünftige Rolle des Schienenverkehrs in einer nachhaltigen Mobilität– Potenziale, Risiken und Handlungsoptionen. Abgerufen am 05.11.2020 von https://www.allianz-pro-schiene.de/wp-content/uploads/2015/09/S-2010-403-1-1.pdf

[4]Allianz pro Schiene (2018): Mehr Klimaschutz mit Schienenverkehr. Handlungsfelder und Lösungsansätze. Abgerufen am 05.11.2020 von https://www.allianz-pro-schiene.de/wp-content/uploads/2018/03/180307_Brosch%C3%BCre_Handlungsempfehlungen_Klimadialog_Final.pdf

[5]Allianz pro Schiene (2015): Stadt, Land, Schiene. 15 Beispiele erfolgreicher Bahnen im Nahverkehr. Abgerufen am 05.11.2020 von https://www.allianz-pro-schiene.de/wp-content/uploads/2015/09/stadt-land-schiene-4-auflage-2014.pdf

[6]Allianz pro Schiene (2012): Die Bahn bringt’s. 10 kluge Verlagerungsbeispiele vom Lkw auf die Schiene. Abgerufen am 05.11.2020 von https://www.allianz-pro-schiene.de/wp-content/uploads/2015/09/broschuere-die-bahn-bringts-2-auflage.pdf

[7]Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2020): Masterplan Schienenverkehr. Abgerufen am 05.11.2020 von https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Anlage/E/masterplan-schienenverkehr.pdf?__blob=publicationFile