Eigentlich hatte die „Bahnhof des Jahres“-Jury solide Funktionalität erwartet, als sie im westfälischen Winterberg aus dem Zug stieg. Doch die Bahnhofstester fanden viel mehr als das: Der Bahnhofsneubau am Stadtrand von Winterberg hat das Zeug, ein äußerst lebendiger Bürgerbahnhof zu werden. Einer, der nicht nur Touristen beeindruckt, sondern der Stadt gleich eine neue Mitte beschert. Auch im nordrheinwestfälischen Winterberg stieß die Jury also auf einen Bahnhof des Jahres, den der Bürgermeister vorangetrieben hat. Vorhang auf für den Bahnhof des Jahres 2018.
Es gibt eine Form der Moderne, die mit Vorliebe Gebäude hervorbringt, die überall stehen könnten. Solch einen 08/15-Neubau hat die Stadt Winterberg mit Bedacht verworfen. Der neue Bahnhof des altbekannten Skiortes Winterberg ist futuristisch, glasklar und farbenfroh, doch der Bezug zur Stadt ist schon in der Form des Gebäudes hergestellt: Die abstrahierte Skisprungschanze auf dem Dach gibt dem Bahnhof einen ganz besonderen Pfiff. Ein solches Portal ist trotz strenger Gestaltung reichhaltig genug, um Bürgern und Touristen eine echte Identifikationsqualität zu bieten.
Dabei ist die Stadt nicht beim Formwillen stehen geblieben: „Bürgerbahnhof“ steht in Winterberg nicht nur drauf, sondern ist auch drin. Der Fahrkartenschalter in dieser hellen, aus Holz und Glas geschmackvoll gestalteten Halle, ist zugleich erste Anlaufstelle für das städtische Bürgeramt: Nicht nur Tickets, sondern auch Personalausweise und Geburtsurkunden sind hier zu haben. Das Personal war für die incognito reisende Jury jederzeit ansprechbar und kompetent zur Stelle, so dass nicht der Hauch einer Ahnung aufkam, hier sei vielleicht ein „Behördenbahnhof“ entstanden.
Auch Details in dieser Warthalle sind bemerkenswert liebevoll gestaltet: Weil der Bahnsteig leicht gebogen und von der Halle aus nicht einsehbar ist, warnt ein Schild die Fahrgäste davor, die Zeit zu vergessen und den schon eingefahrenen Zug zu verpassen. Die Bauherren waren sich also bewusst, dass der Wartebereich über eine verführerisch hohe Aufenthaltsqualität verfügt.
Ein zweiter Nebeneingang in den Bahnhof dürfte Touristen eher verborgen bleiben: Hier hat die Stadt zusätzlichen Platz für ihren Bürgerservice geschaffen: Die Volkshochschule des Hochsauerlandkreises, das Jugend- und das Gesundheitsamt sind hier untergekommen. Die Stirnseite des Bahnhofs besetzt ein italienisches Restaurant, das zu den besten der Stadt gehört. Auf die übliche „zwischen zwei Zügen schnell mal auf die Hand“-Bahnhofsgastronomie hat der Bahnhof Winterberg verzichtet.
Die Bahnsteiganlagen sind ebenfalls weit über dem Standardniveau: Wanderer und Radfahrer finden einen Schließfachanlage für überschüssiges Gepäck, Aufladestationen für ihre E-Bikes und einen integrierten Bahn-Bussteig, der dem Experten verrät, dass hier die Stadt bei der Planung kräftig mitgemischt und hervorragend mit der Deutschen Bahn zusammengearbeitet hat. Diesen Eindruck bestätigt die sorgfältige Ausschilderung der Bahnhofsumgebung in die Stadt und ins Bergland.
Und dass der Bahnhof eigentlich mit einer misslichen Randlage zu kämpfen hat? Sogar dieses Hemmnis könnte der Neubau heilen: Die Stadt plant mit dem Bahnhof Winterberg einen Lückenschluss und zahlreiche Braukräne beweisen, dass auf ehemaligen Brachflächen zwischen Stadt und Bahnhof gerade ein neues Stadtzentrum mit Wohnungen, Gewerbe und Geschäften wächst. Kein Zweifel: Der Bahnhof Winterberg erschließt sich gerade sein eigenes Umfeld, und zwar schneller und gründlicher als der Berliner Hauptbahnhof. Dass in Winterberg nicht ganz so viele Züge verkehren wie in der Hauptstadt, müssen die Reisenden zwar verschmerzen. Aber vielleicht können Deutschlands Großstadt-Bahnhöfe sogar von diesem neuen Konzept des kleinen aber feinen Bürgerbahnhofs lernen?