Sieger 2012

Die Goldmedaille geht nach Köln, an Zugbegleiter Peter Gitzen von DB Fernverkehr. Für DB-Regio Lokführer Oliver Vitze aus dem baden-württembergischen Crailsheim gibt´s die Silbermedaille. Bronze gewinnt BOB-Zugbegleiterin Alexandra Schertler und den Sonderpreis Zivilcourage bekommt der Zugbegleiter der Südostbayernbahn, Yalcin Özcan. 

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Gold: Peter Gitzen

Eisenbahner mit Herz - Goldmedaille

Tränen lügen nicht

Speisewagen des ICE von Köln nach Berlin: Eine ältere Dame ist sichtlich aufgeregt, als sie einem jungen Zugbegleiter ihr Malheur schildert. In einem anderen Zug hat sie irrtümlich ihre neue Bahncard in den Mülleimer geworfen und kann nur noch die abgelaufene Karte vorzeigen.

Der Mann handelt streng nach Vorschrift und die Kundin muss den Differenzbetrag bezahlen. Als Zugchef Peter Gitzen später durch den Speisewagen geht, sieht er die Kundin den Tränen nahe. Er erfährt von dem Missgeschick. Sofort ruft er in dem besagten Zug an und verortet die kritische Mülltonne. Tatsächlich: Die Bahncard wird gefunden. Die ältere Dame ist "überglücklich", schreibt Lothar Götz, der die Szene mit angesehen hat.

Ein paar Wochen später im IC nach Essen: Zwei 14-jährige Mädchen steigen in den falschen Zug. Statt nach Essen bei Oldenburg fahren sie nach Essen ins Ruhrgebiet, merken es aber unter ihren Kopfhörern erst Stunden später.

Mit Tränen in den Augen treffen Saskia und Annabell um Mitternacht im fahrenden Zug auf Peter Gitzen. Er nimmt Kontakt mit den Eltern auf. Eigentlich müsste er die beiden der Polizei übergeben, aber nach zahllosen Telefonaten findet sich eine bessere Lösung: Peter Gitzen stellt ein Zelt auf seine Gartenterrasse und organisiert den Kindern am nächsten Morgen eine behütete Rückreise.

Das Porträt

Der Herzensgute

Am 21. August 2001 verliert Zugchef Peter Gitzen im Intercity von Hamburg nach Köln sein Herz. Die junge Moskauerin Lena sitzt mit ihrem 6-jährigen Sohn André in seinem Zug. Schon als er die Fahrkarten kontrolliert und die Frau in fließendem Russisch mit kölschem Akzent begrüßt, ist es um die beiden geschehen: Ein paar Monate später sind sie verheiratet.

Es ist also seine Glücks-Strecke, auf der Peter Gitzen Jahre später Saskia und Annabell trifft. Die Mädchen fahren im falschen Zug, der sich im Nachhinein als doch nicht so verkehrt herausstellt: Immerhin lernen sie die ganze Familie Gitzen kennen, übernachten im Zelt und gratulieren der inzwischen geborenen Tochter Anactacia zum siebten Geburtstag. Danach greifen die Mädchen zur Feder und empfehlen der Jury mit großer Überzeugungskraft ihren Kandidaten.

Peter Gitzen ist als Mensch so herzensgut, dass sogar Kollegen lächeln, wenn sie ihn sehen. „Peter wird Eisenbahner mit Herz? Der hat es verdient.“ Auch sein langjähriger Gruppenleiter, Heinz Häckes, lächelt. „Der Peter übertreibt es manchmal mit dem Helfen. Aber man kann ihm ja nicht böse sein.“ Einer wie Peter darf sogar kleine Mädel mit nach Hause nehmen? Die Kollegen winken ab: „Beim Peter sind die in guten Händen.“ Wahrscheinlich weil Peter Gitzen einer ist, der auch eine 78-jährige Dame in Not mitgenommen hätte. Vielleicht hätte er die aber nicht im Zelt untergebracht.

Das Interview

"Ich bin immer im Dienst"

ICE-Zugchef Peter Gitzen über allzu korrektes Verhalten von Kollegen, die beruhigende Wirkung der kölschen Mundart und wie er im Intercity seine spätere Ehefrau kennen lernte

Herr Gitzen, was war die größte Herzgeschichte, die Sie je im Zug erlebt haben?
Das war am 21. August 2001. Da habe ich die Frau kontrolliert, die später meine Ehefrau geworden ist. Sie kam aus Moskau, saß im Intercity Hamburg – Köln und wollte nach Aachen, um eine Cousine zu besuchen. Am Kölner Hauptbahnhof wusste sie nicht weiter, „zum Glück“, sagen wir beide heute. Ich habe sie nach Aachen begleitet und ihr in der nächsten Woche ganz Deutschland gezeigt. Ich habe wirklich alle Register gezogen. Sie wollte sich revanchieren und hat mich nach Moskau eingeladen. Ein paar Monate später waren wir verheiratet.

Das ist mal ein glückliches Ende ganz ohne Tränen. Wie kommt es, dass Ihre Fahrgäste sonst so viel weinen?
Ich arbeite seit 38 Jahren für die Bahn. Über die Jahre kommt da schon einiges an Tränen zusammen. Ich erlebe etwa vier- bis sechsmal im Jahr echte Abenteuer mit meinen Fahrgästen.

Wie war das denn mit der Bahncard der alten Dame. Können Sie sich daran erinnern?
Natürlich. Ich war Zugchef auf dem ICE von Köln nach Berlin. Etwa auf der Höhe von Wolfsburg war ich mit der Fahrkartenkontrolle in der 2. Klasse fertig und ging noch einmal durchs Restaurant. Da sah ich die Dame an einem Tisch sitzen. Mir fiel sofort auf, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war, sie hob die Hand in meine Richtung und wirkte etwas weinerlich. Ich setzte mich zu ihr an den Tisch und fragte, was los sei. Da erzählte sie mir ihr ganzes Missgeschick. Die abgelaufene Bahncard hatte sie vor sich liegen, aber ihre neue hatte sie wohl irrtümlich in den Mülleimer von einem Regionalexpress geworfen. Mein junger Kollege hatte deshalb schon 30 Euro kassiert. „Wäre das möglich, von hier aus in einen anderen Zug zu telefonieren?“, fragte sie. „Na klar ist das möglich“, sagte ich. Aus ihren Fahrkartenunterlagen konnte ich raus lesen, in welchem Zug sie gesessen hatte. Das sagte ich dem Kollegen an Bord auch. Es dauerte nicht lange, da kam der Rückruf. Die Bahncard ist gefunden worden, der Triebfahrzeugführer versprach, sie an der DB Information in Braunschweig für Frau Winter zu hinterlegen.

Was haben Sie dann dem jungen Kollegen gesagt?
Ich ging zu ihm, bat, die Ersatzfahrkarte zu stornieren und brachte der Dame ihr Geld zurück. Natürlich hatte der Kollege korrekt gehandelt. Das habe ich vor der Kundin auch betont.

Sie selber handeln aber niemals bloß korrekt.
Manchmal ist das eben zu wenig. Man kann ja über alles reden. Zum Beispiel hätte ich es nicht verkehrt gefunden, wenn der junge Kollege vorher mal zu mir gekommen wäre. Als Zugchef muss ich am Ende sowieso den Kopf hinhalten, da hätte er mich auch gleich fragen können. Und es kann nie schaden, einer Sache noch mal nachzugehen. Das kostet einen Anruf, und dann ist spätestens klar, dass die Frau tatsächlich eine Bahncard hat.

Es gibt also schon Fälle, in denen Sie mit Ihren Kollegen nicht einverstanden sind?
Vor kurzem war ich in Zivil unterwegs. Ein Fahrgast hatte seinen Rucksack mit allen Papieren, Flugtickets nach Dubai und Ausweisen auf dem Bahnsteig in Düsseldorf vergessen. Der Zug fuhr gerade los und der Reisende erzählte dem Zugchef von seiner Notlage. Wissen Sie, was der sagte? „Ist doch nicht mein Problem.“ So was kann ich überhaupt nicht verstehen.

Was haben Sie dann gemacht? Sie trugen ja keine Uniform.
Uniform nicht, aber mein Diensthandy habe ich immer dabei. Ich habe mich also eingeloggt und am Bahnhof Bescheid gesagt, dass der Rucksack sofort hinter uns hergeschickt werden soll. Das hat dann auch alles wie am Schnürchen geklappt und der Reisende hat seinen Flug noch gekriegt.

Sind die Kollegen böse, wenn Sie einfach so eingreifen?
Glaube ich nicht. Die mich kennen, wissen schon, dass ich nicht anders kann. Ich muss einfach helfen. Ich bin immer im Dienst.

Kürzlich waren Sie im Dienst auch einmal wieder gefordert. Da hatten Sie es mit zwei jungen Mädchen zu tun, die am späten Abend im falschen Zug saßen. Was haben Sie da gemacht?
Das war wirklich ein Abenteuer. Ich fuhr im IC von Hamburg nach Köln, da standen kurz hinter Münster auf einmal zwei 14-Jährige vor meinem Dienstabteil. Sie waren ganz außer sich und fragten: „Fährt der Zug nach Essen?“ Ich sagte: „Natürlich fährt der Zug nach Essen.“ Ich setzte noch einen drauf: „Der Zug fährt sogar noch ein Stückchen weiter: nach Köln.“ Da schauten sie mich groß an. „Aber nach Essen bei Oldenburg?“ „Nee“, sage ich, „Kinder, nach Essen bei Oldenburg? Da kommen wir heute nicht mehr hin.“ Sie waren sofort in Tränen aufgelöst. Ich setzte sie deshalb erst mal ins Dienstabteil, tröstete sie, nahm das Telefon und rief die Eltern an.

Die haben sich bestimmt ziemlich erschreckt.
Das schon, aber nachdem ich mich vorgestellt hatte, die Situation geschildert habe, sind sie sehr schnell wieder runtergekommen. Das lag bestimmt an meiner Stimme.

Oder an Ihrem kölschen Dialekt.
Bestimmt! Jedenfalls wollten die Mädchen, Saskia und Annabell, nicht der Polizei übergeben werden. Das hätte ich nach der Vorschrift an der nächsten Station in Dortmund nämlich machen müssen. Eine andere Möglichkeit? Ich würde sie mit zu mir nach Hause nehmen, im Garten ein Zelt für sie aufbauen und am nächsten Tag eine geordnete Rückreise für sie organisieren. Das schien uns nach mehreren Telefonaten mit allen Eltern am Ende das Beste, und so haben wir das dann auch gemacht.

Saskia und Annabell haben die Reise mit Ihnen so spannend gefunden, dass sie einen perfekt formulierten Aufsatz an die „Eisenbahner mit Herz“-Jury geschrieben haben. Die Mutter hat uns verraten, dass sie nicht mal beim Abfassen helfen durfte. Raten Sie mal, wie lange die Jury danach gebraucht hat, um Sie für den Titel auszuwählen?

Lange?

Zwei Minuten.

Das freut mich so sehr, dass ich Gänsehaut kriege.

Die Einsendung der Kunden

Tränen am Volkstrauertag

Es geschah am Volkstrauertag - eigentlich einem Tag der Erinnerung an traurige Ereignisse. Dass dieser Tag für eine ältere Dame auf der Fahrt mit dem ICE beinahe auch sehr traurig geworden wäre, hatte ich nicht erwartet.

Ich saß auf der Fahrt im Speisewagen. Eine sichtlich aufgeregte ältere Dame stieg zu und nahm in einiger Entfernung Platz. Alles verlief normal bis ein jüngerer Schaffner zu Frau Winter kam und die Tickets kontrollierte. Ich bekam aufgrund der sich dann entwickelnden längeren Diskussion mit, dass sie bereits vor der Kontrolle in einem anderen Zug gesessen hatte und dort auch kontrolliert worden war. Nun aber war ihre gültige Bahncard (BC) verschwunden- konkret: sie hatte ihre abgelaufene BC dabei, die soeben erhaltene neue BC, die sie zur Kontrolle in anderem Zug vorgezeigt hatte, jedoch -in der Annahme, es sei die abgelaufene- in den Mülleimer im Abteil geworfen. Der Schaffner zeigte an dieser Situation wenig Interesse und kassierte die Dame für die neue Zugstrecke hinsichtlich der Preisdifferenz erneut zum vollen Tarif ab.
Wenig später kam der Zugchef Peter Gitzen im Speisewagen vorbei und sah die nach Tränen ringende Dame dort sitzen. Sofort fragte er sie, was denn los sei. Sie erzählte ihm die Geschichte. Peter Gitzen - übrigens eine typische Kölner Frohnatur - zögerte keinen Moment, rief im anderen Zug an und ließ nach der BC, die im Mülleimer direkt hinter dem Steuerungsabteil liegen sollte, suchen. Er blieb gegenüber der Dame sitzen und wartete geduldig auf einen Rückruf. Es dauerte nur 5 Minuten: die Karte war gefunden worden (und auch gültig). Herr Gitzen ließ die Karte am Servicepoint, den die Dame auf der Rückfahrt ansteuern würde, deponieren und es war gut. Zehn Minuten später tauchte er mit den vorher vom Kollegen abkassierten Zuschlag wieder auf und gab ihr das Bargeld zurück. Außerdem regelte er noch alles, damit sie auf der Rückfahrt keinen Ärger bekommen würde. Frau Winter strahlte überglücklich.

Es geht also doch mit dem "Menschen" im Zugbetreuer. Anschließend bat ich Herrn Gitzen zu mir und bat ihn um Erlaubnis, ihn vorschlagen zu dürfen. Er stimmte zu und erzählte beiläufig, er habe bereits einen ganzen Leitzordner mit Dankschreiben zu Vorgängen dieser Art. Auf meine Frage, ob er jemals eine dienstliche Belobigung oder irgendetwas dieser Art erfahren habe: klares Nein!!
Ich hoffe, dieser Bericht wird das ändern.

Lothar Götz

In die falsche Richtung

Meine Freundin Annabell Ortmann (14) und ich (Saskia Kollmer, 14) wollten eine Freundin in Rheine besuchen. Wir hatten uns für die Ferien ein Schülerferienticket für Niedersachsen geholt und konnten damit nach Rheine fahren. Als wir wieder von Rheine nach Hause wollten und wir in Osnabrück umsteigen mussten, dachten wir uns, da es noch nicht so spät war gehen wir noch in die Stadt.

Nach zwei Stunden wollten wir dann in den nächsten Zug nach Essen (Oldenburg) einsteigen. Also beeilten wir uns, um den Zug zu bekommen. Uns kam es schon komisch vor, dass der Zug eine halbe Stunde Verspätung hatte und meine Mutter rief mich schon an, wo wir bleiben. Als der Zug dann endlich gekommen war und wir einstiegen, mussten wir getrennt sitzen, da der Zug sehr voll war und nirgends zwei Plätze frei waren. Als der Zug losgefahren war, hörten wir beide Musik mit unserem Headset und hörten somit anfangs nicht, was in den Durchsagen kam. Irgendwann kam uns das alles komisch vor, und Annabell machte die Musik aus, um die nächste Durchsage zu hören. Plötzlich drehte sie sich zu mir und sagte mir, dass wir gerade durch Münster gefahren sind. Uns wurde klar dass wir nicht im Zug nach Essen (Oldenburg), sondern im Zug nach Essen (Ruhe) (Zugnummer 2311) waren. Wir überlegten, was wir jetzt machen können und hatten Angst, da wir ja jetzt schwarz fahren. Nach einer Zeit gingen wir dann los, um jemanden zu suchen, der uns helfen konnte. Wir kamen an dem Schaffner (Peter Gitzen) vorbei und erklärten ihm, was passiert ist. Er sah nach, wann der nächste Zug nach Osnabrück fährt und sagte, wir würden heute nicht mehr nach Hause kommen, da es mittlerweile schon sehr spät war. Wir waren total überfordert und wussten nicht, was wir nun machen sollten und weinten. Peter Gitzen beruhigte uns und machte uns einen Vorschlag: Entweder wir würden nun in Dortmund aussteigen und müssten uns dort dann sechs Stunden aufhalten oder wir könnten zur Polizei gehen oder wir würden mit ihm nach Hause fahren, und er würde seinen Sohn anrufen, damit er das Zelt aufbauen kann. Wir wollten mit ihm fahren, und er rief unsere Eltern an, um ihnen zu erklären, was passiert war. Diese waren sehr besorgt, aber stimmten dann zu.

Peter gab uns etwas zu trinken und zu essen und, wir setzten uns dann in einem Raum neben ihn, weil er noch nach Köln fahren musste. Dort stiegen wir dann mit ihm um in den Zug nach Aachen und von dort nach Eschweiler zu ihm nach Hause. Dort angekommen erzählte er uns, dass seine Tochter am nächsten Tag Geburtstag hätte. Sein Sohn hatte das Zelt schon für uns aufgestellt und Peter gab uns Zahnbürsten, damit wir uns noch die Zähne putzen konnten. Dann gingen wir schlafen.

Am nächsten Tag weckte Peter Annabell und mich. Wir stiegen zusammen mit Peter in den Zug nach Köln, wo er uns ein Brötchen und Tee spendierte. Danach brachte Peter uns zum Zug Richtung Osnabrück und erklärte seinen Kollegen, was los war und wir durften First Class fahren. Dort bekamen wir auch noch einen Snickers und etwas zu trinken. Als wir in Osnabrück angekommen sind, wartete dort ein Mann auf uns, der uns in der Zeit, wo wir auf den Zug nach Essen (Oldenburg) gewartet haben, betreut hat. Wir bekamen dort auch noch einen Tee und ein Brot. Der Mann brachte uns dann zu dem Gleis und wir fuhren endlich wieder nach Hause, wo uns unsere Eltern schon erwarteten.

Wir sind sehr froh, dass wir Peter Gitzen getroffen haben, denn ohne seine Hilfe wären wir nicht nach Hause gekommen. Er war um uns sehr bemüht und hat uns mit Essen und Trinken gut versorgt, ohne dass wir einen Cent bezahlen mussten. Außerdem hat er für uns extra eine Betreuungsperson organisiert. Auch wenn seine kleine Tochter am nächsten Tag Geburtstag hatte, hat er sich bereiterklärt, uns mit zu sich nach Hause zu nehmen und sich um uns gesorgt. Er ist ein sehr netter, hilfsbereiter, herzlicher Mensch.
Wir würden uns freuen, wenn er Eisenbahner mit Herz wird!

Saskia Kollmer, Annabell Ortmann

Die Würdigung der Jury

Niemals Schema F

Wer den Passagier als Gast ansieht, dessen Gastfreundschaft endet nicht am Zugabteil.

Uns hat die Herzlichkeit und das private Engagement von Peter Gitzen fasziniert, der gestrandeten Reisenden in der Zeit bis zum Morgenzug aus der Patsche hilft. Ein solcher Zugbegleiter verfährt auch bei Ticket-Problemen nicht nach Schema F. Soviel Gastfreundschaft nach Dienstschluss und Freude an der Recherche sind selten.

Silber: Oliver Vitze

Eisenbahner mit Herz - Silbermedaille

Der Herr der Ringe

Nürnberg Hauptbahnhof: Alexandra Gutsche-Trimis bringt ihre Freundin zum Bahnhof. Beim Winken rutscht ihr der Ehering vom Finger und landet unter dem Zug am Nebengleis.

Ein Anruf beim Ehemann bringt sie nicht weiter. In ihrer Not klopft die Frau bei den Lokführern des wartenden Regionalexpress. Der „netteste Lokführer der Welt“ steigt aus und kriecht für sie unter den Zug. Er wendet alle Steine, bis der Ring gefunden ist. Als die Kundin ihn voller Dankbarkeit fragt, was sie für ihn tun kann, hat er nur einen Wunsch: Ein Stück Seife.

Das Porträt

Oli kommt nach Hause

Kurz bevor er die Tat vollbringt, die ihn zum Eisenbahner mit Herz macht, sitzt Oliver Vitze in seiner Lokomotive und isst eine Currywurst. Dieser Umstand passt ins Bild: Die entscheidenden Jahre seines Lebens hat der 41-Jährige nämlich in Berlin und Umgebung verbracht.

Geboren am Bahnhof von Neustrelitz erklettert er schon als kleiner Junge jede Lok, die in seiner Reichweite steht. Seine Vorliebe für die preußische T 18 oder die 78er Baureihe stammt aus frühkindlicher Prägung. Ein Bahnarzt am Berliner Ostbahnhof erklärt ihn im Wendejahr 1989 für tauglich, und Oliver Vitze steigt von nun an dienstlich in den Führerstand. Er arbeitet für den Fernverkehr im Ostbahnhof, dann in Berlin Wuhlheide, wechselt später nach Potsdam in den Rangierdienst. Als er hört, dass die Deutsche Bahn im baden-württembergischen Crailsheim Lokführer sucht, denkt Oliver Vitze, er könne doch auch „in den Westen gehen“. Er bewirbt sich und wird prompt genommen.

Mit dem Ländle hat der Exilberliner inzwischen seinen Frieden gemacht. Schließlich kommt er viel herum: etwa nach Stuttgart oder ins bayerische Nürnberg, wo er zum Fototermin für den „Eisenbahner mit Herz“ auch die attraktive junge Frau wiedertrifft, deren verschwundenen Ehering er in einer dunklen Novembernacht aus dem Schotter geborgen hat. Alexandra Gutsche-Trimis ist von ihrem „nettesten Lokführer“ auch bei Tageslicht sichtlich angetan und verspricht, zur Siegesfeier am 13. April nach Berlin zu reisen. Oliver Vitze wird sich ebenfalls auf den Weg machen - er kommt schließlich nach Hause.

Das Interview

"Da bin ich ganz der Romantiker"

Oliver Vitze über Eheringe als Symbol der Liebe, die Einsamkeit auf der Lok und die Trauer nach einem Personenschaden.

Herr Vitze, an einem dunklen Vorweihnachtsabend haben Sie im Dienst eine Herzensangelegenheit glücklich gelöst. Was ist geschehen?
Ich war mit meinem Azubi auf der Lokomotive, und wir haben eine Currywurst gegessen. Ich war gerade fertig, da klopft es an der Tür. Eine junge Frau steht draußen. Sie war ziemlich aufgelöst und sagte, sie hätte ihren Ehering verloren. Er sei unter den Zug gerollt. Was man denn jetzt tun könnte. Ich sagte: „Wir suchen ihn. Die Option besteht.“ Dann habe ich mir meine Warnweste gegriffen und die Lampe, und dann sind wir auf den Bahnsteig rausgegangen.

Wie lange haben Sie gesucht?
Das war nicht ganz einfach. Sie hatte sich zwar die Stelle gemerkt, wo der Ring ins Gleis gerollt ist, aber wir haben mit ihrem Handy und meiner Lampe unter den Zug geleuchtet und es war nichts zu sehen. Also bin ich unter den Zug gekrochen, habe alles abgeleuchtet. Außer Grünzeug,, Müll, Kronkorken und Bierdeckeln war nichts zu entdecken. Als dann klar war, dass es eine längere Operation werden würde, habe ich mich auf die Schienen gesetzt und Stein für Stein umgedreht. Irgendwann konnte ich ihr zum Glück zurufen: „Ich hab’ ihn.“ Als ich wieder auftauchte, hat sie sich unglaublich gefreut. Obwohl ich aussah wie ein Müllmann.

So ein Ehering ist schon ein starkes Symbol.
Für mich auf jeden Fall. Ich bin bald 19 Jahre glücklich verheiratet, und da weiß ich, was der Ring bedeutet. Als ich geheiratet habe, habe ich mir gesagt: Dieser Ring bleibt an meinem Finger, bis ich unter der Erde liege. Da bin ich ganz der Romantiker.

Haben Sie Ihrer Frau von dem Erlebnis unter dem Zug erzählt?
Ja, noch am selben Abend. Ich kam nach Hause und sagte: „Ich habe heute einer jungen Frau die Ehe gerettet.“ Da hatte ich auch gleich eine Erklärung, warum ich so schmutzig war. Meine Frau hat sich über die Geschichte so gefreut, dass wir ein Glas Sekt getrunken haben.

Wenn Sie so hilfsbereit sind, klopft es sicher öfter mal an Ihrer Lok?
Ja, ich helfe gern. Meistens geht es natürlich nicht um einen Ehering, sondern um Menschen, die auf dem Bahnsteig keinen Ansprechpartner finden. Die kommen dann zu uns nach vorne und klopfen. Wir sind ja immer da. Meistens wollen sie dann nur irgendeinen Anschluss wissen oder brauchen Hilfe beim Tragen eines Kinderwagens. 

Lokführer gelten als die einsamen Wölfe im Eisenbahnverkehr. Fühlen Sie sich einsam?
In der Regel sind wir schon Einzelkämpfer. Im Güterverkehr sogar noch viel mehr, da sind wir ganz allein. Ich habe in meiner Zeit in Berlin lange Güterverkehr gemacht. Hier in Crailsheim arbeite ich im Personenverkehr. Das gefällt mir besser. Ich bin ein kommunikativer Typ.

Haben Sie vor allem nette Erlebnisse oder gibt es auch schwierige Seiten in Ihrem Beruf?
Ja, die gibt es. Vor einem Jahr hatte ich einen „Personenunfall“. Meine Lok hatte 100 Sachen, und da sehe ich vor mir etwas auf dem Gleis. Es war zu spät, um zu bremsen. Diesen Augenblick werde ich nicht vergessen: wie ich merke, dass ich keine Chance habe zu bremsen.

Hat Sie das verfolgt?
Ja, wenn mal schlechtes Wetter ist und das rote Signal immer näher kommt, dann schießt es mir wieder in den Kopf. Aber Alpträume oder Schweißausbrüche erlebe ich nicht mehr. Eine Bahnpsychologin in Stuttgart hat mit mir darüber gesprochen, ich kann jetzt damit umgehen.

Ihren Beruf wollten Sie deshalb nicht aufgeben?
Nein. Es war immer schon klar, dass ich Lokführer werden würde. Etwas anderes hat es für mich nie gegeben.

Wie kann das sein?
Das Haus in Neustrelitz, in dem ich aufgewachsen bin, lag direkt am Bahnhof. Ich konnte kaum laufen, da saß ich schon auf der Dampflok. Damals haben mich die Aufsichtsbeamten noch rausgeholt und wieder nach Hause verfrachtet. Mir war aber klar: Da will ich hin.

Sie sind also ein Eisenbahner mit Herz?
Ganz klar: Es ist einfach schön, auf Schienen zu fahren. Aber mein Herz gehört den Dampf- und Dieselloks. Da sieht und hört man die Kraft.

Die Einsendung der Kundin

Ring gegen Seife

Am 25.11.2011 habe ich meine Freundin zum Bahnsteig 19 im Nürnberger Hauptbahnhof begleitet. Wir waren gemeinsam bei der Eröffnung des Nürnberger Christkindlesmarktes.

Sie stieg in den RE um 19:40 Uhr und fuhr zurück nach Regenstauf. Ich habe ihr nachgewunken und plötzlich löste sich mein Ehering und hüpfte von meinem Finger über den Bahnsteig und rollte unter den gegenüberstehenden Zug. Diese RE 19928 hatte noch fast 45 Minuten Zeit bis zur Abfahrt nach Stuttgart um 20:35 Uhr. Ich habe mit dem Handy unter den Zug geleuchtet, aber erfolglos. Dann habe ich meinen Mann angerufen und gebeten zu kommen und suchen zu helfen, wenn der Zug abgefahren ist.

Da weit und breit kein Bahnpersonal zu sehen war und ich die Sache besprechen wollte, habe ich beim Lokführer an die Türe geklopft. Ein junger Mann öffnete das Fenster und fragte mich, was los sein. Der 2. Mann in der Lok kam aus der Türe, und ich sollte ihm die Stelle zeigen, wo der Ring auf die Schienen gefallen ist. Er kletterte mit Taschenlampe unter den Zug und suchte. Leider nichts zu finden.

Dann hob er Stein für Stein zur Seite und suchte intensiv. Nach einiger Zeit fand der netteste Lokführer der Welt meinen Ehering zwischen Müll, Dreck und Kronkorken. Ich war so glücklich und konnte mich vor Aufregung gar nicht richtig bedanken. Sein einziger Wunsch war - "ein Stück Seife" zum Händewaschen.

Alexandra Gutsche-Trimis,
Nürnberg, Bayern

Die Würdigung der Jury

Ritter in der Not

Wer im Reisenden den Menschen sieht, der klettert für Fahrgäste auch unter den Zug und sucht den verlorenen Ehering.

Uns hat beeindruckt, wie der Lokführer sich nicht zu schade war, im Schotter und Schmutz nach dem Ring zu suchen. Soviel hilfsbereite Ritterlichkeit ist selten.

Bronze: Alexandra Schertler

Eisenbahner mit Herz - Bronzemedaille 

Krankenpflege de luxe in der BOB

Auf der Fahrt von Tegernsee nach München leidet Marianne Meißner plötzlich unter Bauchweh und Übelkeit. Als sie an der Tür steht, um Luft zu schöpfen, wird BOB-Zugbegleiterin Alexandra Schertler aufmerksam.

Sie bringt die Frau in die erste Klasse, sorgt dafür, dass sie sich hinlegen kann. Während der Fahrt sieht sie mehrfach nach der Kranken. Die Kundin ist „sehr begeistert“ und hätte eine solche Fürsorglichkeit bei der Bahn niemals erwartet.

Das Porträt

Im schönsten Bayerisch

Es muss schon hart auf hart kommen, damit BOB-Zugbegleiterin Alexandra Schertler die Geduld verliert. Als sie auf der Fahrt nach München auf zwei Russen trifft, die ohne Fahrkarte und mit den Füßen auf den Sitzen nach eigenem Bekunden zum „Ficken nach Deutschland“ fahren, sagt sie nur ein Wort: „Raus!“.

Auch andere Fahrgäste tanzen ihr nicht so leicht auf der Nase herum: In ihren Schülerzügen herrscht kein Saustall und überhaupt kann sich die 40-Jährige gut durchsetzen. Dass sie einen Geisteskranken, der sie mit einem Nagel abstechen will, im fahrenden Zug mit Kampfsporttechnik unschädlich macht, glaubt jeder, der den festen Händedruck der gelernten Zahnarzthelferin erlebt hat.

Genauso zupackend ist Alexandra Schertler, wenn ihre Fahrgäste Hilfe brauchen. Zwei Mädels, die zum Skifahren in die Berge wollen, aber ein Ticket haben, das erst ab neun Uhr gilt: Eine Notiz auf der Fahrkarte, und die beiden fahren mit. Ein kleiner Junge, dem ein Euro Fahrgeld fehlt: die Zugbegleiterin zückt ihr eigenes Portemonnaie und begleicht den Rest.

Dass trotz der vielen großen und kleinen Abenteuer die Welt von Alexandra Schertler noch in Ordnung ist, betont sie in schönstem Bayerisch. Mit einem Bergpanorama vor dem Küchenfenster in ihrem Haus in Tegernsee geht der Tag los, auf ihrer Strecke Tegernsee -München kennt sie alle ihre Fahrgäste mit Namen. Und die Kollegen? In der BOB-Familie ist Alexandra Schertler nur „die Alex“ - eine echte Eisenbahnerin mit Herz eben.

Das Interview

"Da überlege ich nicht lange"

BOB-Zugbegleiterin Alexandra Schertler über Kampfsport im fahrenden Zug, einen kleinen Jungen mit zu wenig Fahrgeld und ihren zahnmedizinischen Blick auf die Welt

Sie sind Eisenbahnerin mit Herz geworden, weil Sie einen Blick für Menschen haben. Wie war das mit der Reisenden, der in der BOB schlecht geworden ist?
Ich habe den Zug in Holzkirchen abgefertigt. Da sah ich die Reisende japsend in der Tür stehen. Es war keine große Kunst zu bemerken, dass es ihr schlecht ging. Sie war nämlich eher grün als weiß im Gesicht. Ich fragte sie, ob ich einen Arzt und den Krankenwagen rufen solle, aber das wollte sie nicht. Sie war mit drei Freunden unterwegs und setzte sich wieder zu ihrer Gruppe zurück. Aber ich habe gesehen, dass es nicht ging. Sie brauchte einfach Ruhe. Also habe ich sie in die erste Klasse gebracht, habe ihr die Füße hochgelegt, die Schuhe ausgezogen, die Jacke unter den Kopf gelegt, etwas zu trinken besorgt und immer wieder nach ihr gesehen.

Gleich hinter der ersten Klasse fuhr an diesem Tag ein Junggesellenabschied mit, die grölten und waren laut. Ich bin hingegangen, habe gesagt, „jetzt ist Ruhe, der Dame geht’s nicht gut“, da war es im selben Augenblick mucksmäuschenstill. Als wir in München ankamen, ging es ihr allerdings nicht besser. Sie zitterte und war in keiner guten Verfassung. Mir wäre es lieber gewesen, wenn wir dann einen Arzt gerufen hätten, aber ihre Freunde versprachen, sie zu begleiten und die Nacht bei ihr zu bleiben.

Die Kundin schreibt von Ihrer „extremen Fürsorglichkeit“, die sie überrascht hätte. Sehen Sie das auch so?
Eigentlich habe ich nur das gemacht, was selbstverständlich war. Was jeder Zugbegleiter oder sogar jeder Fahrgast auch hätte tun müssen. Es gibt einfach diese Situationen, da überlege ich nicht lange. Da handele ich einfach.

Aber irgendeine Handlung reicht nicht, es muss schon die richtige sein.
Wahrscheinlich hilft mir dabei mein früherer Beruf. Ich bin eigentlich gelernte Zahnarzthelferin und in den 23 Jahren in der Praxis hatte ich viele Patienten, die im Stuhl das Bewusstsein verloren haben. Angstpatienten, die saßen da und auf einmal rutschten sie weg.

Sie sehen also den Patienten im Fahrgast?
Das kann man schon so sagen. Dieser Blick bleibt. Aber besonders gut schaue ich bei Zähnen hin. Meine beiden Töchter haben mit 18 und 15 Jahren noch kein einziges Loch in ihrem Gebiss.

Wenn Sie früher Zug gefahren sind, wie haben Sie da die Zugbegleiter erlebt?
Sehr unterschiedlich. Es gab die, die sagten „Guten Morgen“ und gingen weiter und andere waren mir sofort sympathisch. Genauso ist das jetzt bei meinen Fahrgästen. Ich habe schwierige Fahrgäste, da bin ich freundlich aber nicht mehr. Bei anderen Fahrgästen kenne ich den Namen, die Familie, den ganzen Hintergrund. 
 
Wie viele kennen Sie denn mit Namen?
Bei den Pendlerzügen in der Früh kenne ich jeden einzelnen. Das ist aber auch kein Wunder, schließlich wohne ich in Tegernsee. Ich bin in der Region geboren und aufgewachsen, meine Kinder gehen hier zur Schule.
 
Der Fahrgast, der Sie eben scherzhaft um ein Autogramm gebeten hat, wer war das? 
Der arbeitet als Staatsanwalt in München und kümmert sich um Kapitalverbrechen. Wir haben auch viele Polizisten auf der Strecke. Wenn es Ärger gibt, weiß ich sofort, ob gerade ein Polizist in Zivil mitfährt.
 
Haben Sie solche Hilfe schon einmal gebraucht?
Es gibt schon gefährliche Situationen. Das schlimmste, was ich je erlebt habe, war ein Fahrgast, der mich fast abgestochen hätte. Er stieg in Holzkirchen zu und pöbelte die Reisenden an. Eine Dame lief durch den Zug und rief mich zu Hilfe. Als ich dazu kam, zeigte er gerade auf seine Sporttasche. Da hätte er eine Waffe drin, mit der er uns alle umbringen würde. Ich schob mit dem Fuß seine Tasche weg, aber er zog plötzlich einen langen Zimmermannnagel. Wenn ich da nicht reagiert hätte, säße ich heute nicht mehr hier. 
 
Was haben Sie gemacht? Ihre Lehre als Zahnarzthelferin hat Ihnen da bestimmt nichts genützt. 
Nein, aber meine Kampfsporterfahrung. Mein Mann und meine Kinder sind aktive Kämpfer. Immer wenn sie zu Hause üben wollten, musste ich das Opfer spielen. Als ich dann den Nagel am Hals hatte, habe ich einfach zugepackt: im fahrenden Zug habe ich den Fahrgast umgelegt, ihn am Boden fixiert und ihm den Nagel abgenommen. An der nächsten Haltestelle wartete schon die Polizei auf ihn. Trotzdem war das mein schlimmstes Erlebnis. 
 
Und Ihr nettestes?
Einmal war ein kleiner Junge im Zug. Dem fehlte ein Euro Fahrgeld. Damit er seine Fahrkarte bekam, habe ich den Euro eben dazugetan. Zwei Tage später wartete am Bahnhof in München eine Frau, mit Pralinen in der Hand. Das war seine Mutter. Ich fand’s eigentlich selbstverständlich, aber sie nicht. 
 
Worauf sind Sie denn bei sich selbst stolz?
Ich denke, ich habe eine gute Menschenkenntnis. Ich merke, wenn einer versucht, mir einen Bären aufzubinden. Aber ich sehe auch, wenn ein Fahrgast nicht weiter weiß oder es ihm schlecht geht.
 
Deshalb sind Sie auch „Eisenbahnerin mit Herz“ geworden. Haben Sie das erwartet?
Nein, als ich es erfahren habe, war ich sprachlos. Für mich ist Helfen normal. Trotzdem freut mich diese Wertschätzung meiner Arbeit.

Die Einsendung der Kundin

Unerwartete Fürsorge

Dieser Wettbewerb passt wunderbar für meine Geschichte, welche ich am vergangenen Wochenende erlebt habe. Ich fuhr am Samstag, 28.01. mit der Bob (18.57 Uhr) mit Freunden von Tegernsee Richtung München Hbf. Auf der Fahrt klagte ich plötzlich über Bauchschmerzen und Übelkeit.

Bei einem Zwischenhalt (leider weiß den Bahnhof nicht mehr) ging ich zur Tür um frische Luft zu tanken und dann war auch schon Ihre Mitarbeiterin, Frau Alexandra Schertler bei mir. Sie erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden und fragte, ob Sie mir behilflich sein könne. Sie begleitete mich kurz zu meinem Platz, um mich dann in die erste Klasse des Zuges zu bringen, damit ich meine Ruhe habe und meine Füße hochlegen kann. Frau Schertler war sehr, sehr fürsorglich und half mir sogar beim Schuhe ausziehen. Während dem Rest der Fahrt schaute sie noch zweimal nach mir und war sofort zur Stelle, als wir München erreichten. Sie half mir beim Schuhe anziehen und begleitete mich zur Tür. Dort fragte sie meine Freunde, ob mich denn jemand heim begleiten würde, was bejaht wurde. Erst dann war Frau Schertler wirklich beruhigt.

Ich möchte sagen, dass ich ein so dermaßen freundliches und fürsorgliches Verhalten von Bahnangestellten niemals erwartet hätte und wirklich sehr begeistert bin, dass Ihre Mitarbeiter sich so toll um Fahrgäste kümmern. Das Verhalten von Frau Schertler war einfach nur super positiv.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen weiteren Kollegen an dem Bahnsteig, wo ich frische Luft tankte, erwähnen. Leider ist mir der Name nicht bekannt. Er fragte, ebenfalls sehr besorgt, ob ich einen Arzt benötige, oder ob die Fahrt fortgesetzt werden kann. Vielleicht erinnert sich ja Frau Schertler noch?! Ich bitte Sie freundlich, meine Nachricht an Frau Schertler weiterzugeben.

Marianne Meißner,
München, Bayern

Die Würdigung der Jury

Den Menschen sehen

Wer im Kunden den Menschen sieht, leidet mit. Uns hat imponiert, wie die BOB-Zugbegleiterin sich geradezu mütterlich um die gesundheitlich angeschlagene Passagierin gekümmert hat. Soviel Einfühlungsvermögen gepaart mit medizinischem Sachverstand ist selten.

Sonderpreis Zivilcourage: Yalcin Özcan

Eisenbahner mit Herz - Sonderpreis Zivilcourage

Wildwest in der Kurhessenbahn

Die Südostbayernbahn (SOB) leiht ihren Zugbegleiter Yalcin Özcan an das Schwesterunternehmen in Hessen aus. Dort gerät der damals 23-Jährige an einen gewaltbereiten Schwarzfahrer.

Der betrunkene Mann bedroht die Fahrgäste, aber Özcan stellt sich ihm in den Weg. Die Reisenden verlassen den Waggon und bringen sich beim Lokführer in Sicherheit. Voller Wut zieht der Randalierer eine Waffe, doch es gelingt Özcan, ihn in einem Abteil einzusperren. In Ehringen (bei Kassel) nimmt die Polizei den Mann fest. Einsender Alfred Honisch ist überzeugt: Yalcin Özcan ist ein "Eisenbahner mit Herz". Der Mann muss es wissen: er unterrichtet schließlich Bahn-Azubis.

Das Porträt

Retter wider Willen

Yalcin Özcan hat das Zeug zum Vorzeigemitarbeiter mit Migrationshintergrund: Die Uniform von DB Regio kleidet ihn vorzüglich, sein Deutsch ist so fließend wie sein Türkisch. Er ist so gut integriert, dass ihn Landsleute schon mal fragen: „Wenn du auf dem Zug auf einen Türken ohne Fahrkarte triffst, drückst du dann ein Auge zu?“

Da schüttelt der 25-jährige SOB-Zugbegleiter den Kopf: „Ohne Fahrkarte geht bei mir nichts.“ Dieselbe Festigkeit brachte ihn im Sommer 2010 in eine sehr gefährliche Situation, als ein Schwarzfahrer im hessischen Kassel eine Waffe zog. Der junge Mann konnte seine Fahrgäste in Sicherheit bringen und den Bewaffneten in ein Abteil einsperren. Trotzdem will er dafür nicht „Held“ oder „Retter“ genannt werden. „Ich bin immer noch derselbe Yalcin.“

Fahrgäste, die demnächst auf der Strecke von München ins oberbayerische Mühldorf am Inn fahren, sollten aber genauer hinsehen, bevor sie den „Eisenbahner mit Herz“ begrüßen. Auf derselben Strecke fährt nämlich auch Özcans Zwillingsbruder, die Beinahe-Schießerei fast zeitgleich mitbekommen hat.

„Bei der SOB sind ganze Familien beschäftigt“, erzählt Yalcin Özcan, da passen die türkischstämmigen Zwillingsbrüder gut ins Konzept. Erstaunlicherweise war es der Vater, der mit elf Jahren nach Deutschland kam und 31 Jahre lang für BMW gearbeitet hat, der seine Söhne für die Bahn begeistert hat. Von Autos will der gelernte Kfz-Mechaniker Özcan seitdem nichts mehr wissen. „Den ganzen Tag in der Fabrik stehen? Nein, lieber auf dem Zug arbeiten. An Bord gibt’s das volle Leben.“

Das Interview

Der entscheidende Moment ist die Fahrkartenkontrolle

SOB-Zugbegleiter Yalcin Özcan über Todesangst, Heldentum und den Unterschied zwischen hessischen und bayerischen Schwarzfahrern

Nach allem, was Ihnen passiert ist, mögen Sie Ihren Job noch?
Ja. Ich liebe meinen Beruf. Trotzdem gibt es Tage, da bin ich abends froh, wenn ich ohne Zwischenfall nach Hause komme. Zugbegleiter ist manchmal schon ein gefährlicher Beruf. Das liegt daran, dass sich an Bord die ganze Gesellschaft widerspiegelt. Bei uns fahren Ärzte und Polizisten mit, aber Drogendealer und Verrückte können eben auch einsteigen. Der entscheidende Moment ist die Fahrkartenkontrolle. Wenn wir jemanden kontrollieren, wissen wir nie, was dahintersteckt.

So war es auch, als Sie in Kassel für die Kurhessenbahn unterwegs waren?
Genau. Von einer Sekunde auf die andere hatte ich eine Waffe vor meiner Nase.

Können Sie das mal genauer schildern?
Das war im Juni 2010. Ich war gerade erst in den Zug eingestiegen und dieser Mann war die erste Person, die ich kontrollieren wollte. Als er mich sah, stand er auf. Da dachte ich schon: „Hier ist was faul. Ein normaler Fahrgast steht nicht einfach so auf.“ In der Hand hielt er eine Bierflasche. Ich bin aber trotzdem hingegangen und habe nach seinem Fahrschein gefragt. Er hatte keinen. Die Fahrt hätte 8,80 Euro gekostet, aber ich musste ihn nun aufschreiben. „Ich geb’ dir zehn Euro, der Rest ist für dich“, sagte er, aber ich erklärte ihm, dass das so einfach nicht ginge. Er solle mir seinen Ausweis geben, dann würde ich seine Daten notieren. Da fing er an, laut herumzuschreien, „Scheiß Bahn“ und was ich wohl tun würde, wenn er mich jetzt angreifen würde. Im Waggon waren auch einige ältere Damen und Kinder, die bereits voller Angst zu uns rüber schauten. Er gab mir dann trotzdem seinen Ausweis, und ich dachte gerade, „das haben wir ja jetzt abgehakt“, da zog er unter seinem T-Shirt eine Waffe hervor. Er fuchtelte damit Richtung Fahrgäste und schrie: „Ich schieß’ euch alle ab. Ich bring’ euch alle um.“

Was haben Sie da getan?
Ehrlich gesagt: ich wusste nicht, was ich tun sollte. Weglaufen? Dableiben? Mit ihm reden? Er war offensichtlich betrunken und jedes Wort von mir reizte ihn mehr. Ich sah auch, dass die erste Dame schon anfing zu weinen. Als ich das gesehen habe, dachte ich: „Entweder hop oder top“. Ich rief in den Waggon: „Alle nach vorne zum Lokführer laufen. Bitte sofort den Wagen verlassen.“ Die Fahrgäste standen auf und verließen den Wagen. Dann war ich ganz allein mit ihm.

Wollten Sie nicht auch weglaufen?
Doch. Nachdem alles um uns leer war, versuchte ich ebenfalls, den Wagen zu verlassen. Aber als er das sah, stellte er seine Waffe scharf. „Jetzt bringe ich dich um“, sagte er, und ich wusste, es nützt nichts. Mit ihm zu diskutieren, hat keinen Sinn, weil er betrunken ist und nicht weiß, was er tut. Also habe ich kein Wort gesagt und gewartet, was passiert.

Was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen?
Mir ist mein ganzes Leben vor den Augen vorbeigezogen. Was macht meine Mutter? Meine Freundin. Was wird mein Bruder denken? Der arbeitete nämlich gerade als Zugbegleiter auf demselben Zug in der Gegenrichtung. Was würde er sagen, wenn er mich nie wieder sähe? Innerlich war mir klar: „Es ist Feierabend.“ Der Mann hörte inzwischen nicht auf zu schreien, zu drohen und zu schimpfen. Trotzdem behielt ich ihn genau im Auge. Als er für einen Augenblick die Waffe von mir wegnahm und sie sich vor den Bauch hielt, dachte ich: „Ich muss was riskieren. Entweder klappt es oder nicht.“ Ich schubste ihn mit voller Wucht in eine Ecke. Dann lief ich zum Lokführer, holte einen Vierkantschlüssel, lief zurück und schloss die Tür des hinteren Waggons zu. Als er merkte, dass er eingesperrt war, trat er gegen Mülltonnen und versuchte die Scheiben zu zerschlagen. Durch das Fenster nahm er wieder mich und die Fahrgäste ins Visier. Ich rief: „Alle aus seinem Blickfeld“ und wieder gehorchten die Reisenden und brachten sich in Sicherheit.

Aber Sie hatten es doch geschafft?
Ja, es war vorbei. An der nächsten Haltestelle stiegen Polizisten zu, die teils mit Motorrädern angefahren gekommen waren. Sie forderten den Mann über Lautsprecher auf, die Waffe wegzuwerfen, er hätte keine Chance. Zu den Reisenden habe ich gesagt: Keiner steigt einfach aus, bevor die Polizei kommt. Erst als die Lage völlig unter Kontrolle war, haben wir gemeinsam den Zug verlassen. Ich war sehr erleichtert und dachte immer wieder: „Was war das denn jetzt?“

Was haben Sie als erstes getan?
Ich habe mich auf den Bahnsteig gesetzt und meine Mutter angerufen. „Wie geht’s dir denn?“, habe ich gefragt und sie meinte: „Was ist denn los, ist was passiert?“ „Ach, nichts“, habe ich gesagt. Mein Bruder wusste aber schon Bescheid. Die Polizei hatte ihn unterrichtet, und er war im Streifenwagen auf dem Weg zu mir. Die Reisenden kamen auf mich zu und haben mich voller Dankbarkeit umarmt. „Sie haben unser Leben gerettet.“ Das alles kam mir alles sehr unwirklich vor.

Warum waren Sie und Ihr Bruder überhaupt in Hessen im Einsatz?
Die Kurhessenbahn ist eine Schwester der Südostbayernbahn. Und weil man auf der Strecke bei Kassel ein großes Problem mit Schwarzfahrern hatte, aber zu wenig Personal an Bord, sind wir für drei Monate dorthin gewechselt. Fast wäre auch alles glatt gegangen, obwohl ich unsere Schwarzfahrer aus Bayern vermisst habe. Die sind, trotz Oktoberfest und Randale, im Ganzen viel ruhiger und gesitteter als die in Kassel. An unserem vorletzten Tag in Hessen ist dann dieser Zwischenfall passiert. Die Abschiedsparty fiel natürlich flach. Ich kam ins Krankenhaus, war einige Zeit krankgeschrieben. Und die Chefs der SOB haben mich erst wieder eingesetzt, als ich fit war. Zuerst sollte ich nur mit Begleitung auf den Zug gehen. 

Hat Sie die Erinnerung verfolgt?
Mein Bruder hat sich gewundert: Weil ich mich ständig umgeschaut habe, ob hinter mir einer mit der Waffe steht. Das ist schon was hängen geblieben. Als ich kürzlich im Lumpi (Anm. der Red.: So heißt der letzte Zug von München nach Mühldorf) wieder an eine Schwarzfahrerin geraten bin, die sich auf dem Klo eingesperrt hatte, da hatte ich so eine Rückblende: Die Tür war zu, ich klopfte und dachte: „Was passiert wohl gerade hinter dieser Tür.“ 

Gelten Sie bei Ihren Kollegen als Held? 
Nein, eher machen die sich Sorgen um mich und fragen: „Geht’s dir auch gut?“ Auch für mich selbst bin ich immer noch derselbe Yalcin wie vorher. Wahrscheinlich hätte jeder so gehandelt. Deshalb war ich auch sehr überrascht, als mich die Münchner Berufsschulklasse für den „Eisenbahner mit Herz“ nominiert hat. 

Und jetzt haben Sie sogar einen Titel gewonnen.
Das freut mich sehr. Weil es mir großen Spaß macht, Zugbegleiter zu sein. Schauen Sie mal, wer in der Fabrik oder im Büro arbeitet, der kriegt vom ganzen Tag nichts mit. Auf dem Zug haben Sie alles: Schnee, Regen, Sonne, Sommer, Stadt, Land, nette Fahrgäste, schlimme Fahrgäste, das volle Leben.

Die Würdigung der Jury

Viel Mut bewiesen

Wer ein Herz für Fahrgäste hat, der schützt sie auch bei Gefahr. Uns hat beeindruckt, wie der Zugbegleiter der Kurhessenbahn den bewaffneten Aggressor isoliert und die Reisenden in Sicherheit gebracht hat. Soviel Mut ist selten.

Preisverleihung

Strahlende Gesichter bei der Preisverleihung im prächtigen Marmorsaal des Berliner Palais am Festungsgraben: Bahnbranche und Presse feierten am Freitag, den 13. April 2012  die "glorreichen Vier" des Wettbewerbs Eisenbahner mit Herz 2012.

Eisenbahner mit Herz 2012