Die Südostbayernbahn (SOB) leiht ihren Zugbegleiter Yalcin Özcan an das Schwesterunternehmen in Hessen aus. Dort gerät der damals 23-Jährige an einen gewaltbereiten Schwarzfahrer.
Der betrunkene Mann bedroht die Fahrgäste, aber Özcan stellt sich ihm in den Weg. Die Reisenden verlassen den Waggon und bringen sich beim Lokführer in Sicherheit. Voller Wut zieht der Randalierer eine Waffe, doch es gelingt Özcan, ihn in einem Abteil einzusperren. In Ehringen (bei Kassel) nimmt die Polizei den Mann fest. Einsender Alfred Honisch ist überzeugt: Yalcin Özcan ist ein „Eisenbahner mit Herz“. Der Mann muss es wissen: er unterrichtet schließlich Bahn-Azubis.
Yalcin Özcan hat das Zeug zum Vorzeigemitarbeiter mit Migrationshintergrund: Die Uniform von DB Regio kleidet ihn vorzüglich, sein Deutsch ist so fließend wie sein Türkisch. Er ist so gut integriert, dass ihn Landsleute schon mal fragen: „Wenn du auf dem Zug auf einen Türken ohne Fahrkarte triffst, drückst du dann ein Auge zu?“
Da schüttelt der 25-jährige SOB-Zugbegleiter den Kopf: „Ohne Fahrkarte geht bei mir nichts.“ Dieselbe Festigkeit brachte ihn im Sommer 2010 in eine sehr gefährliche Situation, als ein Schwarzfahrer im hessischen Kassel eine Waffe zog. Der junge Mann konnte seine Fahrgäste in Sicherheit bringen und den Bewaffneten in ein Abteil einsperren. Trotzdem will er dafür nicht „Held“ oder „Retter“ genannt werden. „Ich bin immer noch derselbe Yalcin.“
Fahrgäste, die demnächst auf der Strecke von München ins oberbayerische Mühldorf am Inn fahren, sollten aber genauer hinsehen, bevor sie den „Eisenbahner mit Herz“ begrüßen. Auf derselben Strecke fährt nämlich auch Özcans Zwillingsbruder, die Beinahe-Schießerei fast zeitgleich mitbekommen hat.
„Bei der SOB sind ganze Familien beschäftigt“, erzählt Yalcin Özcan, da passen die türkischstämmigen Zwillingsbrüder gut ins Konzept. Erstaunlicherweise war es der Vater, der mit elf Jahren nach Deutschland kam und 31 Jahre lang für BMW gearbeitet hat, der seine Söhne für die Bahn begeistert hat. Von Autos will der gelernte Kfz-Mechaniker Özcan seitdem nichts mehr wissen. „Den ganzen Tag in der Fabrik stehen? Nein, lieber auf dem Zug arbeiten. An Bord gibt’s das volle Leben.“
SOB-Zugbegleiter Yalcin Özcan über Todesangst, Heldentum und den Unterschied zwischen hessischen und bayerischen Schwarzfahrern
Nach allem, was Ihnen passiert ist, mögen Sie Ihren Job noch?
Ja. Ich liebe meinen Beruf. Trotzdem gibt es Tage, da bin ich abends froh, wenn ich ohne Zwischenfall nach Hause komme. Zugbegleiter ist manchmal schon ein gefährlicher Beruf. Das liegt daran, dass sich an Bord die ganze Gesellschaft widerspiegelt. Bei uns fahren Ärzte und Polizisten mit, aber Drogendealer und Verrückte können eben auch einsteigen. Der entscheidende Moment ist die Fahrkartenkontrolle. Wenn wir jemanden kontrollieren, wissen wir nie, was dahintersteckt.
So war es auch, als Sie in Kassel für die Kurhessenbahn unterwegs waren?
Genau. Von einer Sekunde auf die andere hatte ich eine Waffe vor meiner Nase.
Können Sie das mal genauer schildern?
Das war im Juni 2010. Ich war gerade erst in den Zug eingestiegen und dieser Mann war die erste Person, die ich kontrollieren wollte. Als er mich sah, stand er auf. Da dachte ich schon: „Hier ist was faul. Ein normaler Fahrgast steht nicht einfach so auf.“ In der Hand hielt er eine Bierflasche. Ich bin aber trotzdem hingegangen und habe nach seinem Fahrschein gefragt. Er hatte keinen. Die Fahrt hätte 8,80 Euro gekostet, aber ich musste ihn nun aufschreiben. „Ich geb’ dir zehn Euro, der Rest ist für dich“, sagte er, aber ich erklärte ihm, dass das so einfach nicht ginge. Er solle mir seinen Ausweis geben, dann würde ich seine Daten notieren. Da fing er an, laut herumzuschreien, „Scheiß Bahn“ und was ich wohl tun würde, wenn er mich jetzt angreifen würde. Im Waggon waren auch einige ältere Damen und Kinder, die bereits voller Angst zu uns rüber schauten. Er gab mir dann trotzdem seinen Ausweis, und ich dachte gerade, „das haben wir ja jetzt abgehakt“, da zog er unter seinem T-Shirt eine Waffe hervor. Er fuchtelte damit Richtung Fahrgäste und schrie: „Ich schieß’ euch alle ab. Ich bring’ euch alle um.“
Was haben Sie da getan?
Ehrlich gesagt: ich wusste nicht, was ich tun sollte. Weglaufen? Dableiben? Mit ihm reden? Er war offensichtlich betrunken und jedes Wort von mir reizte ihn mehr. Ich sah auch, dass die erste Dame schon anfing zu weinen. Als ich das gesehen habe, dachte ich: „Entweder hop oder top“. Ich rief in den Waggon: „Alle nach vorne zum Lokführer laufen. Bitte sofort den Wagen verlassen.“ Die Fahrgäste standen auf und verließen den Wagen. Dann war ich ganz allein mit ihm.
Wollten Sie nicht auch weglaufen?
Doch. Nachdem alles um uns leer war, versuchte ich ebenfalls, den Wagen zu verlassen. Aber als er das sah, stellte er seine Waffe scharf. „Jetzt bringe ich dich um“, sagte er, und ich wusste, es nützt nichts. Mit ihm zu diskutieren, hat keinen Sinn, weil er betrunken ist und nicht weiß, was er tut. Also habe ich kein Wort gesagt und gewartet, was passiert.
Was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen?
Mir ist mein ganzes Leben vor den Augen vorbeigezogen. Was macht meine Mutter? Meine Freundin. Was wird mein Bruder denken? Der arbeitete nämlich gerade als Zugbegleiter auf demselben Zug in der Gegenrichtung. Was würde er sagen, wenn er mich nie wieder sähe? Innerlich war mir klar: „Es ist Feierabend.“ Der Mann hörte inzwischen nicht auf zu schreien, zu drohen und zu schimpfen. Trotzdem behielt ich ihn genau im Auge. Als er für einen Augenblick die Waffe von mir wegnahm und sie sich vor den Bauch hielt, dachte ich: „Ich muss was riskieren. Entweder klappt es oder nicht.“ Ich schubste ihn mit voller Wucht in eine Ecke. Dann lief ich zum Lokführer, holte einen Vierkantschlüssel, lief zurück und schloss die Tür des hinteren Waggons zu. Als er merkte, dass er eingesperrt war, trat er gegen Mülltonnen und versuchte die Scheiben zu zerschlagen. Durch das Fenster nahm er wieder mich und die Fahrgäste ins Visier. Ich rief: „Alle aus seinem Blickfeld“ und wieder gehorchten die Reisenden und brachten sich in Sicherheit.
Aber Sie hatten es doch geschafft?
Ja, es war vorbei. An der nächsten Haltestelle stiegen Polizisten zu, die teils mit Motorrädern angefahren gekommen waren. Sie forderten den Mann über Lautsprecher auf, die Waffe wegzuwerfen, er hätte keine Chance. Zu den Reisenden habe ich gesagt: Keiner steigt einfach aus, bevor die Polizei kommt. Erst als die Lage völlig unter Kontrolle war, haben wir gemeinsam den Zug verlassen. Ich war sehr erleichtert und dachte immer wieder: „Was war das denn jetzt?“
Was haben Sie als erstes getan?
Ich habe mich auf den Bahnsteig gesetzt und meine Mutter angerufen. „Wie geht’s dir denn?“, habe ich gefragt und sie meinte: „Was ist denn los, ist was passiert?“ „Ach, nichts“, habe ich gesagt. Mein Bruder wusste aber schon Bescheid. Die Polizei hatte ihn unterrichtet, und er war im Streifenwagen auf dem Weg zu mir. Die Reisenden kamen auf mich zu und haben mich voller Dankbarkeit umarmt. „Sie haben unser Leben gerettet.“ Das alles kam mir alles sehr unwirklich vor.
Warum waren Sie und Ihr Bruder überhaupt in Hessen im Einsatz?
Die Kurhessenbahn ist eine Schwester der Südostbayernbahn. Und weil man auf der Strecke bei Kassel ein großes Problem mit Schwarzfahrern hatte, aber zu wenig Personal an Bord, sind wir für drei Monate dorthin gewechselt. Fast wäre auch alles glatt gegangen, obwohl ich unsere Schwarzfahrer aus Bayern vermisst habe. Die sind, trotz Oktoberfest und Randale, im Ganzen viel ruhiger und gesitteter als die in Kassel. An unserem vorletzten Tag in Hessen ist dann dieser Zwischenfall passiert. Die Abschiedsparty fiel natürlich flach. Ich kam ins Krankenhaus, war einige Zeit krankgeschrieben. Und die Chefs der SOB haben mich erst wieder eingesetzt, als ich fit war. Zuerst sollte ich nur mit Begleitung auf den Zug gehen.
Hat Sie die Erinnerung verfolgt?
Mein Bruder hat sich gewundert: Weil ich mich ständig umgeschaut habe, ob hinter mir einer mit der Waffe steht. Das ist schon was hängen geblieben. Als ich kürzlich im Lumpi (Anm. der Red.: So heißt der letzte Zug von München nach Mühldorf) wieder an eine Schwarzfahrerin geraten bin, die sich auf dem Klo eingesperrt hatte, da hatte ich so eine Rückblende: Die Tür war zu, ich klopfte und dachte: „Was passiert wohl gerade hinter dieser Tür.“
Gelten Sie bei Ihren Kollegen als Held?
Nein, eher machen die sich Sorgen um mich und fragen: „Geht’s dir auch gut?“ Auch für mich selbst bin ich immer noch derselbe Yalcin wie vorher. Wahrscheinlich hätte jeder so gehandelt. Deshalb war ich auch sehr überrascht, als mich die Münchner Berufsschulklasse für den „Eisenbahner mit Herz“ nominiert hat.
Und jetzt haben Sie sogar einen Titel gewonnen.
Das freut mich sehr. Weil es mir großen Spaß macht, Zugbegleiter zu sein. Schauen Sie mal, wer in der Fabrik oder im Büro arbeitet, der kriegt vom ganzen Tag nichts mit. Auf dem Zug haben Sie alles: Schnee, Regen, Sonne, Sommer, Stadt, Land, nette Fahrgäste, schlimme Fahrgäste, das volle Leben.
Wer ein Herz für Fahrgäste hat, der schützt sie auch bei Gefahr. Uns hat beeindruckt, wie der Zugbegleiter der Kurhessenbahn den bewaffneten Aggressor isoliert und die Reisenden in Sicherheit gebracht hat. Soviel Mut ist selten.